»Wir wollten einfach keine Informationen mehr aus zweiter Hand«, erklärten die beiden Sprecher der Grünen im Landkreis München, Markus Büchler aus Oberschleißheim und Antje Wagner aus Grünwald.
Die beiden engagierten Grünenpolitiker reisten deshalb auf Einladung der Grünen in Japan vom 27. Oktober bis 5. November nach Fukushima, um sich dort, rund acht Monate nach der Katastrophe, ein Bild von der Situation zu machen. Im Gepäck: Geigerzähler, Schutzkleidung und die Eindrücke ihrer Reise nach Tschernobyl im März dieses Jahres. Das Thema Umweltschutz habe in Japan bis zur Reaktorkatastrophe keine große Lobby gehabt.
Das Hochtechnologieland lebe in dem Glauben immer mehr Strom für seine Produkte zu benötigen, erklärte Wagner, die als Mitarbeiterin von MdL Susanna Tausendfreund im Landtag arbeitet.
Das Unglück habe die Menschen jedoch zum Nachdenken bewegt, so ihr Eindruck. Erstaunt zeigte sich Büchler davon, wie aufgeschlossen sich die Japaner ihnen gegenüber verhalten hätten. »Man hatte uns erklärt, dass Japaner eher zurückhaltend seien, ein persönlicher Kontakt eigentlich nur über einen japanischen Begleiter möglich sei. Doch die Leute waren sehr offen. Sie haben uns vielfach sogar angesprochen, wenn sie uns mit den Messgeräten unterwegs auf der Straße gesehen haben«, berichtet der Vater eines Sohnes weiter. Im Gegensatz zu Tschernobyl, das militärisches Sperrgebiet sei und nur mit Sondergenehmigung und in militärischer Begleitung hätte bereist werden können, seien in Fukushima nur die engeren Sperrzonen rund um den Reaktor militärisch gesichert.
Die Wohngebiete, die im Sperrgebiet liegen würden, seien hingegen nur durch Warnschilder gesichert. Zwar sehe man auch hin und wieder Polizeipatrouillen in diesem Gebiet, doch hindere einen niemand daran, das Gebiet zu betreten, berichtet Büchler weiter. Besonders beeindruckt habe die beiden die Begegnung mit einer alten Dame, die zum Todestag ihres Mannes in ihr Haus zurückgekehrt war. »Sie hat uns eingeladen und uns gebeten, im Haus und im Garten die Werte zu messen«, berichtet Wagner. Die Werte, die sie dort vorgefunden haben, vor allem Cäsium 137, waren niederschmetternd, bekennt der 38 Jahre alte Büchler. Rund 30 Jahre würde es dauern, bis sich allein dieser Stoff abgebaut habe. »Uns war klar, dass die alte Dame nie mehr in ihr Haus zurückkehren kann, aber das kann man einem Mensch nicht einfach so ins Gesicht sagen«, bekennt Büchler erschüttert. Statt dessen erklärten ihr die beiden Grünen-Sprecher, dass noch nicht alle Daten vorlägen, dass man deshalb über einen genauen Zeitpunkt nichts sagen könne, sie noch Geduld haben müsse, so Wagner bedrückt. »Die Informationspolitik in Japan ist unglaublich schlecht, dennoch vertrauen die Leute weiter auf ihre Regierung«, berichtet Wagner weiter. So hätten die Bewohner sich nach der Katastrophe mit einem speziellen Jodpräparat zumindest ein wenig schützen können, doch davon wurde niemand unterrichtet, empört sich die Grünen-Politikerin.
Die Fahrt durch das Sperrgebiet habe die beiden an ihre Reise nach Tschernobyl erinnert.
Das Gänsehautgefühl angesichts leerer Straßen, Spielplätze und Geschäften habe sich auch in Fukushima wieder eingestellt. »Die Natur fängt an, sich ihren Weg zu bahnen«, informiert Büchler. »Man kann sich gut vorstellen, wie das hier in 25 Jahren aussieht«, bekennt Wagner eingedenk der Bilder aus Russland.
Aber nicht nur in den Sperrzonen seien die Werte erhöht, auch in den benachbarten Städten. In Koriyama, rund 40 Kilometer Luftlinie von Fukushima entfernt, haben sie abends bei einer Veranstaltung der japanischen Grünen gesprochen. Zahlreiche Bürger wären gekommen, die verunsichert seien und Angst hätten.
Viele persönliche Geschichten und Schicksale seien ihnen dabei begegnet. Ein Geschäftsmann beispielsweise, der in dem ehemals wohlhabendem Fukushima drei seiner vier Geschäfte hatte und nun finanziell vor dem Ruin stehen würde. Menschen, die ihre Arbeit, ihr Heim verloren haben, sie alle hätten wissen wollen, wie es weitergehen kann und ob sie akut gefährdet seien. »Bei unseren Messungen in Koriyama, die wir unter anderem im Stadtpark vorgenommen haben, haben wir beispielsweise vier MicroSievert (mSv) gemessen. In Deutschland gilt ein Wert von 0,003 bis 0,007 mSv pro Tag und ein mSv pro Jahr als zumutbar. In Japan wurde der Wert nach der Katastrophe auf 20 mSv pro Jahr gesetzt. Ob die Dosis von vier mSv schon gefährlich sei, wie die Langzeitauswirkungen sind, ob die Böden und das Trinkwasser belastet sind, darüber würden zum jetzigen Zeitpunkt noch keine genauen Angaben vorliegen. Doch Büchler und Wagner haben fleißig Material gesammelt und mit nach Deutschland genommen. Derzeit werde es noch ausgewertet, informierte Büchler.
Berührend und erschreckend zugleich empfanden beide das Vertrauen der Bürger in den Staat. »Unglaublich viele Freiwillige sind dort in den betroffenen Gebieten, um bei den Aufräumarbeiten und Säuberungsaktionen zu helfen. Die Menschen opfern ihren Urlaub und arbeiten mit, wo sie gebraucht werden. Aus allen Teilen des Landes kommen sie«, weiß Büchler zu berichten. Hiroshi Maruyama sei einer von ihnen. Er kommt aus dem 800 Kilometer entfernten Kobe. Als er 1996 bei dem großen Erdbeben in Kobe alles verloren hat, wurde ihm von Freiwilligen geholfen. »Die Hilfe möchte ich jetzt zurückgeben«, erklärte er den deutschen Gästen bescheiden. Gearbeitet werde dabei strikt nach Anweisung. Hier habe sich für Wagner und Büchler gezeigt, wie wenig Japan die Situation unter Kontrolle hat. »Die Leute in den Dekontaminiertrupps haben keine Schutzkleidung und Atemmasken an. Sie haben nicht einmal Geigerzähler dabei, um zu messen, ob an der beauftragten Stelle überhaupt belastetes Material vorhanden ist oder nicht. Ohne entsprechende Messungen weiß aber niemand, ob diese Aktionen erfolgreich sind oder nicht«, wunderten sie sich. »Hier habe ich begriffen, dass diese Katastrophe einfach zu groß ist, um mit den Folgen überhaupt perfekt umgehen zu können«, so Büchler.
Im kommenden Frühjahr werden die beiden Grünen-Sprecher eine Vortragsreihe über ihre Japanreise im Landkreis anbieten. Bis dahin sollen auch die umfangreichen Datensammlungen ausgewertet sein. hw/sl