Veröffentlicht am 27.03.2012 00:00

München · Die Rückreise nach München steht an


Von red
Einer der letzten Tage von Philipp von der Wippel in England geht zu Ende.	  (Foto: phil)
Einer der letzten Tage von Philipp von der Wippel in England geht zu Ende. (Foto: phil)
Einer der letzten Tage von Philipp von der Wippel in England geht zu Ende. (Foto: phil)
Einer der letzten Tage von Philipp von der Wippel in England geht zu Ende. (Foto: phil)
Einer der letzten Tage von Philipp von der Wippel in England geht zu Ende. (Foto: phil)

Drei Monate lang war der Philipp von der Wippel (16) als Austauschschüler in England. Jetzt geht die Zeit zu Ende und der Giesinger ruft sich die vergangenen drei Monate noch mal in Gedächtnis. In drei Tagen steht die Rückreise nach München an.

Goodbye Germany, England we’re coming

Philipp auf der Insel - Kolumne: Austauschschüler Philipp berichtet drei Monate lang über seine Erlebnisse und den Unterschieden bzw. Gemeinsamkeiten von Deutschen und Engländern

Live auf Facebook: „Philipp auf der Insel“ Verfolgen Sie Philipps Erlebnisse und stellen Sie Ihre Fragen!

Was geschieht in drei Monaten auf der Insel wirklich? Zwölf Wochen sind bereits vorbei gerauscht und am Samstag geht es in die im Herzen mitgenommene Heimat zurück. Ich habe nicht den entferntesten Schimmer, was geschehen wird, wenn wir uns im Sonnenuntergang im Landeanflug auf »Franz Josef Strauß« befinden werden, aber gewaltig wird es sein. Bevor der schmerzhafte Abschied von einem neu entstandenen Zuhause ansteht, das Koffergewicht ausgetüftelt und das Flugticket herausgelegt wird, werfe ich noch stolz einen Blick auf das Erlebte aber auch mit Wehmut zurück auf meine 88 Tage in England.

»Wie viele Mützen brauche ich wohl, um nicht zu frieren? Wie viele ›Fress-Pakete‹ müssen aus der Heimat eingeschleust werden, um nicht zu verhungern? Und wie werde ich mit der englischen Sprache zurecht kommen, um nicht zu vereinsamen?«

Diese und einige weitere umherschwirrende Befürchtungen spielten beim Start in ein nicht planbares Abenteuer eine zentrale Rolle und erzeugten ein aufdringlich aufsteigendes mulmiges Gefühl. Um mir selbst diese scheinbar ewig zurückliegenden Gedanken wieder in Erinnerung zu rufen greife ich zurück auf eine kurze Passage meines allerersten Artikels einige Tage vor dem Aufbruch: »Am meisten gespannt bin ich darauf, ob sich die vielen Klischees bewähren oder ob ich das glatte Gegenteil antreffe. Diese verbreiteten Vorurteile reichen von dem Wetter und dem Kälteempfinden der rauen Briten über die auszulegende Pünktlichkeit bis zum eintönigen Essen. Ich habe mich aber entschlossen, so viel wie nur möglich aufzunehmen, Neues zu entdecken und kennenzulernen. Und falls sich das eine oder andere Klischee bewahrheiten sollte, werde ich die Eigenart mit Schmunzeln selbst übernehmen.«

Offenheit ist Grundvoraussetzung, Erwartungen sind fehl am Platz. Was es im umfassenden Ausmaß bedeutet, für alles offen zu sein und wirklich keinerlei Erwartung zu hegen, lernte ich tatsächlich hier Stück für Stück. Sobald ich meinte zu wissen, wie der englische Hase läuft, spielte das Schicksal genau andersherum: Das konnte der Weg nach York sein, der mich zur 300 Kilometer entfernten London Bridge geführt hat, aber genauso auch im simpelsten Alltag.

Wenn aber dann zwangsweise die letzte Voreingenommenheit überwunden ist und jeder Tag auf seine eigene Art und Weise kommt und geht, dann spielen all diese Eigenschaften, die wir salopp »typisch englisch« nennen, keine Rolle mehr. Da setzen dann die persönlichen Erlebnisse ein, die kein Reiseführer und auch kein noch so erfahrener England-Kenner prophezeien kann. Aber gerade diese werden hängen bleiben und haben mich jetzt schon fühlbar geprägt. Ich gehe das Wagnis ein drei Monate in drei prägende Inhalte zusammenzufassen, die mir in diesem Moment existenziell erscheinen: Erschaffen eines neuen Umfeldes, vor nichts eine Scheu haben und Lösen von Schwierigkeiten.

Wenn ich heute an den ersten Abend in Lancaster zurückdenke, dann kommt in mir wieder das Gefühl auf, in eine andere Welt hineingeworfen zu sein. Fremdes Land, fremde Menschen, fremde Umgebung. Es ist der Start von Null – Herausforderung und Möglichkeit zugleich. Zu Hause bin ich über Jahre hinweg in mein Umfeld hineingewachsen. Für die Menschen hier bin ich ein Fremdling und das Einleben könnte ebenfalls Jahre dauern, wenn mir nicht klar wäre, dass meine Zeit hier beschränkt ist und dadurch ein gewisser fast schon spielerischer Reiz entsteht: Was ist möglich in drei Monaten? »It’s up to you!«: Als Fremder bin ich derjenige, der den ersten Schritt wagt. Ich bin selbst der Architekt meines Bauwerkes. Hierbei kommt wahre Kreativität zum Vorschein: Wo könnte ich überall Kontakte knüpfen und Freundschaften suchen? Gleichzeitig muss ich mit reichlich Geduld gewappnet sein, denn niemand hier hat ein Leben lang sehnlichst auf meine Ankunft gewartet – sie haben ein Umfeld, ich nicht.

Um die Scheu in das Gegenteil zu wenden, braucht es eine Menge Mut. Jeden Tag aufs Neue, immer und immer wieder auf Menschen zugehen und eine Unterhaltung beginnen. Die anfängliche Erfolgsrate an bleibenden Kontakten ist aufgrund von Unerfahrenheit erschreckend gering. Gerade in den ersten Wochen den Einstieg in Gruppen wie Sportclub, Chor, Orchester oder wenn nicht vermeidbar auch Perlentauchen zu schaffen ist äußerst hilfreich. Regelmäßige Termine verleihen dem wirren Start Struktur und lassen sogar einen Alltag entstehen. Bei mir waren es Band, Chor und Fitnessstudium…

Der Aufenthalt im Ausland ist nicht nur Honigschlecken. Durch das Eintauchen in ein neues Leben entstehen die gleichen Schwierigkeiten, Missverständnisse und Konflikte, wie sie auch im vertrauten Zuhause entstehen würden – es ist eben kein Urlaub. Ich nahm in solchen Situationen einen entscheidenden Unterschied besonders stark wahr: Wenn in vertrauter Umgebung etwas in Schieflage gerät, dann ist immer jemand zur Stelle, der standhaft bleibt. Wenn aber im Ausland Sand ins Getriebe gerät, dann gerät alles ins Straucheln. Diese Erfahrung schätze ich ungeheuerlich und teile sie vermutlich mit den meisten »Ausbüxern«: Wenn das prägende Umfeld mal nicht zu spüren ist, wird plötzlich transparent, wer man eigentlich selbst ist – ohne jede Verzierung, Beeinflussung oder Beurteilung.

Das geflügelte Wort, dass das Reisen den Horizont erweitert, stimmt tatsächlich – den geographischen und kulturellen, aber vor allem den eigenen Horizont. Wie ein Buch schließt sich nun meine Zeit auf der Insel. Jede Zeile war ein Traum. Das Buch verdient einen besonderen Platz im Regal meines Lebens. Die Kapitel dieses Romans werden in Erinnerung bleiben, die neue Welt werde ich im Herzen behalten.

north