Veröffentlicht am 16.02.2006 00:00

München - Röhre oder Ring?


Von red

Mehr als 700.000 Menschen in mehr als 1000 S-Bahnen drängeln sich momentan jeden Tag durch die S-Bahn-Stammstrecke zwischen Laim und Ostbahnhof. Wirklich jede S-Bahn aus dem MVV-Gebiet muss durch den 1972 gebauten und 2004 modernisierten Tunnel. Damit ist die Münchner S-Bahn-Stammstrecke das dichtest befahrene Nadelöhr Europas.

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Ursprünglich für nur rund 200.000 Fahrgäste am Tag ausgelegt, rechnet die Deutsche Bahn, dass bis 2015 1,3 Millionen Fahrgäste am Tag mit den S-Bahnen befördert werden müssen.

„Das wäre mit dem alten Tunnel nie und nimmer zu machen“, erklärt Bahn-Sprecher Horst Staimer. Zwar haben Freistaat und Bund erst kürzlich für rund 266 Millionen Euro unter anderem den Tunnel modernisiert und am Ostbahnhof ein neues Stellwerk bauen lassen – seitdem treten technische Probleme weit weniger oft auf, aber „wenn ein Zug im Tunnel liegen bleibt, kommt natürlich immer noch der gesamte Verkehr zum Erliegen“, so Staimer.

Naheliegende Lösung: Ein weiterer Tunnel muss her! Tatsächlich ist diese Idee nicht neu, aber jetzt steht sie kurz vor ihrer Realisierung. Momentan durchläuft das Projekt „Zweite S-Bahn-Stammstrecke“ das Planfeststellungsverfahren, 2007 soll dann mit dem Bau der parallel laufenden Gleisanlage begonnen werden und 2010 sollen die ersten Züge den neuen Tunnel durchfahren. Die Finanzierung des mit einem Investitionsrahmen von 1,6 Milliarden Euro größten Nahverkehrprojekts Europas übernehmen Bund und Freistaat.

Eigentlich besteht also durchaus Grund zur Freude bei allen Beteiligten: Das S-Bahn-Netz wird weiter ausgebaut, der Freistaat kann sich mal wieder als Investitionsförderer feiern lassen und falls es in einem der zwei Tunnel zu Problemen kommen sollte, könnten die Züge in den anderen Tunnel umgeleitet werden. „Für uns gibt es auch keine Alternative zum zweiten Tunnel“, bekräftigt Bahn-Sprecher Staimer.

Das stimmt so allerdings nicht ganz. Alternativen zum neuen Tunnel gäbe es durchaus, etwa den so genannten „Ringschluss“ im Süden zwischen Poccistraße und Kolumbusplatz. Statt also jeden Fahrgast aus dem Umland, der in eine andere Linie umsteigen möchte, erst umständlich wie bisher und auch künftig geplant, in die City zu schicken, würden durch den Ringschluss weitere Umsteigebahnhöfe geschaffen werden. Gute Erfahrungen mit Ring-S-Bahnen wurden etwa in Berlin gemacht, die dadurch ihr chaotisches Schnellbahn-System etwas entzerren konnten. Befürworter des Ringschlusses sind vor allem Umweltverbände, Anlieger der künftigen Großbaustelle rund um den neuen Tunnel und große Teile der Grünen.

Ihre Argumente: Der Ringschluss sei günstiger, könnte schneller realisiert werden und sei katastrophensicherer. Die tatsächlichen Baukosten beim Ringschluss würden sich auf rund 600 Millionen Euro belaufen. Eine von der Bahn im Jahr 2001 in Auftrag gegebene Studie kam allerdings zum Schluss, dass durch Grundstücksenteignungen, Prozesskosten und Gebäudeabrissen entlang der geplanten Ringbahnstrecke etwa gleich hohe Gesamtkosten entstehen würden wie beim Bau des zweiten Stammstrecken-Tunnels. 2003 entschied sich der Landtag für die Variante „Zweite Stammstrecke“ und nun geht das ganze Projekt langsam in die heiße Phase.

Am 9. Februar 2006 hat auch der Münchner Stadtrat dem Projekt zugestimmt – mit den Stimmen der SPD- und CSU-Fraktion. Bei den Grünen kam es im Vorfeld allerdings zu heftigen Diskussionen zwischen Partei-Basis, Stadtrats- sowie Landtagsfraktion. Manfred Runge, wirtschaftspolitscher Sprecher der grünen Landtagsfraktion profilierte sich dabei gemeinsam mit dem Münchner Grünen-Stadtrat Jens Mühlhaus zum prominentesten Kritiker gegen die neue Stammstrecke. Runge hält es „für nicht hinnehmbar, dass mehr als eine Milliarde Euro dafür ausgegeben wird, dass bei Störungen ein Grundbetrieb aller Linien sichergestellt werden kann.

Zusätzliche Gleise im alten Tunnel und neue Ausweich- und Überholmöglichkeiten würden Störfälle doch auch schon entschärfen.“ Weiterer Kritikpunkt der Grünen-Politiker: Nach dem derzeitigen Stand der Planung würden die Züge entlang der neuen Stammstrecke lediglich an zwei Bahnhöfen halten – nämlich in 40 Meter Tiefe am Hauptbahnhof und am Marienhof. Fahrgäste der Stammstrecke-Zwei-Linien müssten also auf dem Weg in die City teils weitere Wege als bisher auf sich nehmen und öfter umsteigen. Die durch den Stammstreckenausbau eigentlich erhoffte Zeitersparnis für Pendler wäre also dahin. Nach bisherigem Stand der Planung würde auch aus dem Zehn-Minuten-Takt auf allen Linien erst mal nichts werden. Die von der Bahn „Mitfall 2“ genannte Planung sieht momentan einen regulären 15-Minuten-Takt für die neuen Stammstreckenlinien vor. Zusätzlich sollen auf vielen Linien halbstündlich Expressbahnen zwischen den Endhaltestellen fahren und nur an wenigen Bahnhöfen anhalten. „Mitfall 2“ sieht außerdem vor, dass die Linien S1 von Freising zur Kreuzstraße, die S2 von Petershausen nach Holzkirchen, die S3 von Mammendorf nach Riem und die S5 von Herrsching nach Ebersberg und ihre entsprechenden Expressvarianten S11, S12, S13 und S15 durch den neuen Tunnel fahren werden.

Während also München-ferne Gemeinden durch die Express-Bahnen näher an München rücken, könnten Pendler, die entlang der Bahnstrecken wohnen, künftig länger zur Arbeit brauchen als bisher.

Die Münchner Grünen-Basis solidarisierte sich Anfang Februar deswegen mit Runge und den kritischen Stimmen aus den Umlandgemeinden und forderten die Stadtratsfraktion auf, gegen die neue Stammstrecke zu stimmen. Nach langen Diskussionen entschied sich ein Großteil der Fraktion allerdings, gegen den Beschluss der Basis zu votieren.

Fraktionschef Sigi Benker verteidigte diesen Schritt mit einem dreiseitigen Brief an die Parteibasis. In dem Brief, der dem Wochenanzeiger vorliegt, heißt es: „Für beide Varianten gibt es inhaltlich gute Argumente.“ Und weiter: „In der Fraktion herrscht völlige Einigkeit in der kritischen Betrachtung des zweiten Tunnels. Die Probleme der Tieflage, der Kosten, der fehlenden Haltestellen und der äußerst problematischen Baustellen wird von allen geteilt.“ Dennoch „hat die Fraktion seit 2001 trotz aller Bedenken der Gesamtplanung zugestimmt“. Laut Benker gehe es nun „um die Glaubwürdigkeit der Grünen [...], aber auch um die Glaubwürdigkeit eines jeden einzelnen von uns.“

Ergebnis: Bis auf Jens Mühlhaus und Lydia Dietrich haben die Fraktionsgrünen im Stadtrat zum ersten Mal in dieser Legislaturperiode gegen ihre eigene Basis votiert.

„Ziemlich enttäuschend“ findet Hans-Peter Eder das. Der Haidhauser ist Vorsitzender der Bürgerinitiative „S-Bahn-Tunnel-Haidhausen“. Die Mitglieder der Initiative sind momentan wohl die lautesten Kritiker gegen den Tunnel. Die zweite Stammstrecke würde Haidhausen nämlich in eine Großbaustelle verwandeln, „und dann noch nicht einmal wirtschaftlich sein können“. Eder stört, dass der Tunnel teilweise, wie am Haidenauplatz, nur rund 40 Zentimeter unter der Oberfläche verlaufen soll, etliche Bäume gefällt werden müssten und dafür nicht einmal der Zehn-Minuten-Takt realisiert werden könnte.

Der persönliche Protest der Haidhauser Anwohner erscheint gerechtfertigt, die allgemeinen Argumente der Tunnelbefürworter allerdings auch. Fakt ist allerdings bereits jetzt, „dass wir den zweiten Tunnel brauchen und bauen werden“, sagt Horst Staimer.

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