Genau 150 Jahre ist es her, dass der Deutsch-Französische Krieg begann. Vom 19. Juli 1870 bis 10. Mai 1871 bekämpften sich die beiden Erzrivalen, der Sieg Preußens und seiner Verbündeten führte zur Gründung des deutschen Nationalstaats. Was das mit München zu tun hat? Ganz einfach: In Haidhausen erinnert ein Viertel an die blutigen Schlachten und deutschen Triumphe, wobei der Stadtteil heute für Frieden und Vielfalt stehen will.
Ob Orleansplatz, Pariser Straße oder Metzstraße: Wer zwischen dem Kulturzentrum Gasteig und dem Ostbahnhof unterwegs ist, begegnet zahlreichen Straßen und Plätzen, die französische Städte im Namen tragen. Bei manchen sind die Verbindungen in den Nachbarstaat nicht so offensichtlich: Weißenburger Platz und Weißenburger Straße beziehen sich auf die Schlacht von Weißenburg 1870, bei der heute als Wissembourg bekannten Grenzstadt im Elsass. Auch Sedanstraße, Wörthstraße oder Gravelottestraße sind nach Orten bedeutsamer Schlachten benannt.
Bei so vielen geographischen Bezügen liegt es nahe, dass das Viertel den Münchnern heute als "Franzosenviertel" geläufig ist. Vorgesehen war dieser Name zum Zeitpunkt der Planung nicht. Ab 1868 entstand im Zusammenhang mit dem Bau der Bahnlinien München-Rosenheim und München-Mühldorf-Simbach der Ostbahnhof. Auf der Fläche zwischen dem neuen Bahnhof und dem bebauten Stadtgebiet rechts der Isar (das 1854 nach München eingemeindete Haidhausen) sollte ein neues Viertel errichtet werden. Als der Ostbahnhof 1871 eröffnet wurde, waren die Straßenzüge des Quartiers bereits festgelegt. "Deutschland war im Siegestaumel nach dem gewonnenen Krieg gegen Frankreich. Da entstand die Idee, die Straßen nach Schlachtorten zu benennen", erklärt der Verein "Freunde Haidhausens". Das Franzosenviertel wurde nach der Maxvorstadt und dem Gärtnerplatzviertel zum dritten Stadterweiterungsgebiet Münchens im 19. Jahrhundert.
Das neue Viertel entstand in den Jahren 1871 bis 1905, es wurde vollständig und besonders dicht bebaut. Nach französischem Vorbild laufen die Straßen sternförmig auf die Plätze zu. Die ursprünglichen Pläne mussten überarbeitet werden, betonen die "Freunde Haidhausens": "Die Ordensfrauen vom Kloster Zum Guten Hirten weigerten sich von Beginn an, Fläche abzugeben." Deswegen weicht das Franzosenviertel in seinem Nordostteil von der sonstigen Form ab, der einst geplante Straßburger Platz wurde nicht realisiert. Wo früher das Kloster beheimatet war, befindet sich seit den 1960er Jahren das Kirchliche Zentrum der Erzdiözöse München-Freising.
Bemerkenswert ist, dass ein großer Teil der Wohnungen, die im späten 19. Jahrhundert im Franzosenviertel entstanden, nicht dem tatsächlichen Bedarf entsprach. In erster Linie benötigten damals Arbeiter und Taglöhner, die im Zuge der Industrialisierung nach München kamen, Unterkünfte. Tatsächlich entstanden jedoch überwiegend Großwohnungen - die später, um Leerstände zu vermeiden, an gleich mehrere Familien vermietetet wurden. Bedingt durch solche prekären Wohnverhältnisse und die daraus resultierenden sozialen Probleme bekam das Franzosenviertel seinen Ruf als "Glasscherbenviertel".
Inzwischen hat sich das Image der Gegend jedoch komplett gewandelt: Heute gilt das Viertel zwischen Rosenheimer Platz und Ostbahnhof als eine der attraktivsten Wohnlagen in ganz München. Die Trendwende hat in den 1970er-Jahren begonnen: Umfangreiche Sanierungsmaßnahmen der Stadt sorgten dafür, dass sich die Wohnverhältnisse deutlich verbesserten, die Einwohnerzahl sank und Haidhausen "in" wurde - gentrifiziert, wie Soziologen und Stadtgeographen sagen. Das wiederum hat zur Folge, dass die meisten Münchner es sich nicht mehr leisten könnten, im Franzosenviertel zu wohnen. Aufgrund seiner Cafés, Läden und Grünflächen wie dem Bordeauxplatz ist es gleichwohl zum Ausgehen und Flanieren weithin bekannt und beliebt. Das Viertel gilt als das bedeutendste Beispiel des geometrischen Städtebaus der Gründerzeit in München und genießt in seiner Gesamtheit als Ensemble besonderen baulichen Schutz.
Wer das Franzosenviertel näher kennenlernen möchte, kann dies auf eigene Faust tun oder an einer der Führungen der "Freunde Haidhausens" teilnehmen. Der Ehrenvorsitzende des Vereins, Johann Baier, der Haidhausen und seine Geschichte so gut erklären kann wie kaum ein anderer, ist dort regelmäßig unterwegs, die corona-bedingte Pause seiner Führungen ist vorbei. Ausfallen muss jedoch die geplante Gedenkfeier zum 150. Jahrestags des Kriegsbeginns. "Die Freunde Haidhausens hätten sehr gerne mit einer Gedenkfeier an den schrecklichen Krieg erinnert und gefeiert, dass unser buntes Haidhausen heute für den Frieden steht. Corona macht das leider unmöglich", sagt die Vorsitzende Verena Kayser-Eichberg. Über das Franzosenviertel und seine Geschichte informiert der Verein in einem Flyer, der unter www.facebook.com/vereinfreundehaidhausens auch digital abrufbar ist. bs/red