„Die Kreuzung ist überaus gefährlich.” Wenn Renate Gautzsch das sagt, spricht sie vom Schnittpunkt der Agnes-Bernauer- und der Fürstenrieder Straße. Die 65-Jährige muss es wissen. Steht sie doch seit beinahe dreizehn Jahren morgens und mittags an dieser Stelle und wacht darüber, dass Schulkinder unversehrt über die Fahrbahn kommen. Personenautos, Lastkraftwagen und Busse nehmen meist mehr als minder rasant auf der Fürstenrieder Straße ihren Weg. Und die Tram muss mittendurch. Da müssen die schwächsten aller Verkehrsteilnehmer – die Fußgänger – aufmerksam sein. Unter ihnen ganz besonders die Kinder.
Vor kurzem nun staunte die Schulweghelferin nicht schlecht. An ihrem „Verkehrsposten” standen die Klasse 1 c der Grundschule an der Fürstenrieder Straße und deren Konrektorin Barbara Reif und sangen für die unermüdliche und wetterfeste Renate Gautzsch das „Papageienlied“. Als Abschiedsständchen! Darüber hinaus gab es einen Blumenstrauß und eine von der ganzen Klasse unterschriebene Zeichnung. Ein „Dankeschön” dafür, dass sie sich jahrelang die Beine in den Bauch gestanden hat, damit die Kinder sicher zum Unterricht und danach wieder nachhause kommen konnten. Auch einige Eltern waren gekommen, um Renate Gautzsch zu verabschieden. Die meint, sie sei mit 65 Jahren alt genug, um aufzuhören. Sie tut das, wie sie sagt, „mit einem lachenden und einem weinenden Auge“. Wenn sie ehrlich sei, müsse sie jedoch zugeben: „Erleichtert bin ich schon.” Und sie ist stolz. Denn: „Ich habe etwas geschafft.“ Das Amt als Schulweghelferin habe sie erfüllt, erzählt die gelernte Anwaltsgehilfin. „Das Schöne ist, ich habe auch etwas zurückbekommen.“ „Himmelfroh“ ist sie vor allem darüber, „dass gottlob nie etwas passiert ist.“
Bis zuletzt war Renate Gautzsch sehr unruhig gewesen. „Es gab noch keinen Nachfolger für mich.“ Jetzt jedoch kann sie sich entspannt zurücklehnen. „Der Großvater eines Kindes übernimmt meinen Platz.“ Wie sich der Verkehr an „ihrer Kreuzung“ entwickelt hat, das verfolgt Renate Gautzsch mit Sorge. „Die Aggressivität vieler Verkehrsteilnehmer ist gewachsen. Mir scheint, sie arbeiten nicht mit-, sondern gegeneinander. Rücksichtnahme ist ein Fremdwort.“ Die Aufgabe, Kinder im Straßenverkehr zu leiten, empfindet Renate Gautzsch als Herausforderung. „Die Kleinen sind lieb und zahm. Aber einige Jugendliche müssen sich hervortun. Die wollen mich provozieren und gehen bei Rot über die Kreuzung.“ Als einer vor Jahren eine Gruppe anderer Jugendlicher „aufmischen” wollte, sei sie dazwischengegangen und habe sich „prompt eine Senkrechte eingefangen”. Das sei aber der einzige Vorfall dieser Art gewesen, erinnert sie sich.
Die 65-Jährige sagt von sich selbst: „Ich bin anstrengend, kritisch, ich äußere mich. Ich bin keine Ampel, die auf Knopfdruck funktioniert.“ Seit sie denken könne, habe sie sich – Mutter von vier jetzt erwachsenen Kindern und von vier Enkelkindern – eingemischt: als Klassensprecherin, im Elternbeirat, als Lektorin an der St. Ulrichs- und der Paul-Gerhardt-Kirche und jetzt noch als Jugendschöffin. Ihr neuestes Amt: Delegierte im Seniorenbeirat. Das habe sie angestrebt, um für die Menschen in ihrer Altersgruppe etwas zu bewirken. Nicht zuletzt auch deswegen, um ihrem über 70-jährigen Ehemann und einer 80-jährigen Schwägerin mit nützlichen Anlaufstellen bei gesundheitlichen Problemen helfen zu können. Renate Gautzsch und ihre Familie haben ein offenes Haus. „Wir haben immer Studenten aufgenommen.“ Zu vielen von denen habe die Familie noch heute Kontakt. Dann ist da noch ein Hund, der versorgt und ausgeführt werden muss. Renate Gautzsch: „Bei uns kommt keine Langeweile auf. Und ich bin ja nicht schüchtern. Ich spreche jeden an.“
In diesen Tagen erfüllt sich für Renate Gautzsch ein Lebenstraum. Sie wird nach Japan reisen. Nach 50-jähriger Wartezeit sieht sie das Land ihrer Sehnsucht. „Ich habe das Gefühl, ich gehöre dort hin“, erklärt sie. Wegen der Familie, Mangel an Zeit und Geld, habe sie die Reise bisher nicht unternehmen können. Doch nun soll’s klappen. Sie ist schon aufgeregt. „Das ist so großartig und wunderbar. Ich kann es noch gar nicht fassen.“ Der vier Wochen dauernde Aufenthalt ist voll verplant, mit Besuchen bei „ihren” ehemaligen Studenten und einer Brieffreundin. Den Erstklässlern, die sie verabschiedeten, scheint die Überraschung gelungen zu sein. „Frau Gautzsch war ganz gerührt“, berichteten sie Christine von Sprenger.