Orkantief Sabine hat das Jubiläumsprogramm zu zehn Projektjahren „Bildung statt Betteln“ ordentlich durcheinandergewirbelt. Der stürmische Tag stand geradezu symbolisch für das Caritas-Projekt: „Mit größten Schwierigkeiten kämpfen und trotzdem Erfolg haben“, wie es die beiden moderierenden Sozialberater Nedialko Kalinov und Ramona Sisu vom Caritas-Fachbereich Integration/Alveni charakterisierten. Das Grußwort des vom Sturm ausgebremsten Geschäftsführers der Caritas München Harald Bachmeier übernahm kurzerhand Frater Emanuel von der Abtei St. Bonifaz. Und für die verhinderten Musiker sprang die ebenso charmante wie talentierte Kalinov-Tochter Antonia am Klavier ein. „Bildung statt Betteln ist ein Vorzeigeprojekt – einzigartig in Deutschland und europaweit anerkannt“, lobte Frater Emanuel den Caritas-Dienst, der Migranten aus Osteuropa unterstützt und fördert. Der Geistliche wünschte viele weitere gute Jahre und Gottes reichen Segen.
Ob Sprachkurs, Schulbesuch, Wohnsituation, Existenzsicherung, Arbeit oder ärztliche Versorgung – die Caritas-Streetworker Kalinov und Sisu kümmern sich um die Probleme der Klienten rund um den Münchner Hauptbahnhof und in der Stadtmitte. Sie sprechen die Menschen auf der Straße direkt an, informieren über bestehende Beratungs-, Bildungs- und Gesundheitsangebote. Die Zahl der Ratsuchenden aus Rumänen, Bulgarien, der Slowakei und Ungarn hat sich im vergangenen Jahrzehnt vervierfacht, auf gut 400 Frauen und Männer. „Bildung statt Betteln“ ist inzwischen eine etablierte Beratung. „Die Problemfelder haben sich nicht wesentlich verändert, nur stark zugenommen“, berichtete Sozialpädagoge Kalinov. „Dringend bräuchten wir eine bedarfsgerechte Unterbringung und Wohnräume für unsere Klientel.“
Auch Nicolas Grießmeier vom Sozialreferat der Stadt München würdigte das Programm „Bildung statt Betteln“, das zu 90 Prozent von der Landeshauptstadt finanziert wird. Es unterstütze die mehrheitlich aus Rumänien stammenden Menschen mit Beratung und konkreter Hilfe etwa bei der Wohnungssuche oder beim Schulbesuch der Kinder, organisiere Kleidung und Lebensmittel. Die Mär von den Bettelbanden wies er zurück: „Wir können nicht feststellen, dass Betteln unter ausbeuterischen Bedingungen stattfindet.“
Mit Unterstützung zahlreicher Partner wie der Landeshauptstadt München, dem Erzbischöflichen Ordinariat, dem Jobcenter, der Volkshochschule oder dem BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) können Gutscheine für kostenlose Integrations- und Deutschkurse ausgereicht werden, in der Folge Schul- und Ausbildungsabschlüsse nachgeholt werden. „Manche haben so eine reguläre Arbeit gefunden“, berichtete Sozialpädagogin Ramona Sisu. Doch immer noch würden Osteuropäer in prekären Arbeitsverhältnissen ausgenutzt und um ihren Lohn gebracht. Überlange Arbeitszeiten und körperlich schwere Arbeiten führten dazu, dass die Menschen krank werden.
Die Caritas-Sozialarbeiter erleben ihre Klienten durchweg als freundlich und offen. „Kaum jemand hat eine schulische Ausbildung, viele sind Analphabeten und haben keine Arbeitserfahrung“, so Sisu. Die bettelnden Frauen pendelten oft zwischen München und der Heimat hin und her, weil sie dort noch Kinder zu versorgen hätten.
Eine Reise ins Jahr 2009 unternahmen Willi Strobel-Wintergerst, Gebietsleiter der Caritas München-Mitte, und Alexander Thal vom Bayerischen Flüchtlingsrat. Sie erzählten von den Anfängen des Dienstes: vom Hunger der Rumänen und Bulgaren, der sie zu den Tafeln trieb; von den Vorurteilen gegen die „Zigeuner“, vom Platte schieben und Kranksein; von der Ausbeutung der Männer am Arbeiterstrich in der Landwehrstraße mit Dumpinglöhnen und Schwarzarbeit. Weil das Geld nicht reichte, gingen die Großmütter zum Betteln, für die Kinder und Enkel. Und das Kreisverwaltungsreferat? Verteilte eifrig Bußgeldbescheide. Der Caritas-Praktikant und bulgarisch sprechende Student Nedialko Kalinov durchbrach den Teufelskreis, knüpfte mit Thal schnell ein Netzwerk der Hilfe. „Wir wollten einen Akt der Würde stiften“, fasste es Strobel-Wintergerst zusammen und nannte ein bezeichnendes Beispiel: „Damals durften die Kinder der rumänischen und bulgarischen Familien keine Regelschulen besuchen. Heute ist das kein Thema mehr.“
Willi Dräxler, Caritas-Fachreferent für Migration und Arbeitsprojekte, berichtete von einem Erkundungstrip in die Heimat der Bettler, wo die Reisegruppe viel Armut und Perspektivlosigkeit vorfand. Und er erinnerte an die Furcht der reichen Weltstadt mit Herz vor einem möglichen Ansturm armer Rumänen und Bulgaren. Als Mitgliedsstaaten der EU erhielten die beiden osteuropäischen Länder 2007 Niederlassungsfreiheit und 2014 die komplette Arbeitnehmerfreizügigkeit. „Sitzen die auf ihren Koffern?“, bangten die Bayern. Die Angst vor den Massen aus Osteuropa war und ist unbegründet. Nur 2 Prozent der 1,5 Millionen Einwohner zählenden Isar-Metropole sind Bulgaren (12.500) und Rumänen (18.000), darunter zahlreiche Roma.
Das Angebot „Bildung statt Betteln“ hält mehrmals pro Woche muttersprachliche Sprechstunden in der Sonnenstraße 12a und der Goethestraße 53 vor.