Veröffentlicht am 23.09.2024 15:27

„100 Jahre möchte auch ich werden”


Von Walter G. Demmel
Walter G. Demmel. (Foto: pr)
Walter G. Demmel. (Foto: pr)
Walter G. Demmel. (Foto: pr)
Walter G. Demmel. (Foto: pr)
Walter G. Demmel. (Foto: pr)

100 Jahre möchte auch ich werden. Ich bin aber erst 88. Für mich liegt das Gründungsjahr 1924 des Wochenanzeigers bereits weit im Gestern. Im Heute - seit 2011 - ermöglichte mir der Wochenanzeiger, als Stadtteilhistoriker meine 130 Vorstadtgeschichten zu Allach-Untermenzing unseren Bürgerinnen und Bürgern in ihre Wohnungen zu bringen, als erzählte Geschichte für alle.
Viele Leserinnen und Leser kennen auch mein Buch, das im Untermenzinger Jubiläumsjahr 2017 als „Münchener Vorstadtgeschichten. Allach-Untermenzing“ erschienen ist. In 2024 erinnerte und feierte auch Allach sein Gründungsjubiläum mit „1250 Jahre Allach“ neben vielen Veranstaltungen mit einer Festschrift.

Die Jahre nach dem Weltkrieg

Zum Wochenanzeiger-Jubiläum bräuchte ich nicht allzu weit in die Geschichte unseres Stadtteils zurückzugreifen. Es handelt sich um die Jahre nach dem 1. Weltkrieg, genauer um die Jahre, die im Zeichen der Inflation standen. Unter dieser litten auch die Bewohner Allachs und Untermenzings. In diese Zeit fällt der weitere Ausbau des Diamaltwerks westlich der Bahnlinie und östlich der Bahnlinie die Inbetriebnahme des ersten Bauabschnitts der Lokomotivfabrik Kraus & Comp. südlich der seit 1909 bestehenden Bayerischen Stahlformgießerei Krautheim & Comp. GmbH.

Das Jahr 1924 sei für München etwas genauer durch eine Aufzählung der wichtigsten Ereignisse beschrieben. Im Februar / März fand gegen Hitler, Ludendorff und weitere acht Anhänger der Hochverratsprozess zum Hitlerputsch statt, der für Hitler mit fünf Jahren Festungshaft in Landsberg und mit Freispruch für General Ludendorff endete. Heinrich Held von der Bayerischen Volkspartei wurde Ministerpräsident und der Bäckermeister Karl Scharnagl, ebenfalls BVP, 1. Bürgermeister in München. Luise Kiesselbach gründete den Paritätischen Wohlfahrtsverband Bayern, die Stadt kaufte die Lenbach-Villa, Richard Strauss wurde Ehrenbürger, im Oktober Einführung der Reichsmark, 100jähriges Bestehen der Stadtsparkasse, Konkordat zwischen Kurie und bayerischem Staat. Hans Dollinger erwähnt noch zwei uns näher liegende Ereignisse: die Fertigstellung der Obermenzinger Kirche „Leiden Christi“ (G. Buchner) und die Einweihung von „St. Martin“ in Moosach (H. Leitenstorfer).

„Hell leuchtender „Münchner Stern”

Im Jahr 2017 feierte Menzing 1.200 Jahre mit einer Festschrift. In dieser schrieb ich u.a. ein Kapitel „Namhafte Personen gestern und heute“ mit den wichtigsten Angaben zu deren Leben. Es ging um 28 Frauen und Männer, unter ihnen Heinz Bosl. In meinem Werbe-Spiegel-Artikel 2014 sollte dann vor allem die Entwicklung dieses einmaligen Untermenzinger Künstlers in seiner Kindheit, Jugend und als Ballettkünstler dargestellt werden: ein hell leuchtender „Münchner Stern und Stern des Südens“.
Heinz Bosl ist in Baden-Baden geboren, wohnte in Dortmund und bezog 1953 mit seinen Eltern und zwei Geschwistern einen Neubau am Untermenzinger Gerlachweg, wo er bei seinen Eltern bis zu seinem Tod wohnte. Bosl wollte schon als Vierjähriger Rollschuhtanzen, wie Katharina Valente singen und tanzen und spielte schon früh in der Familie Klavier. Er ging in die Untermenzinger Volksschule hatte seine Erstkommunion in St. Martin und durfte schon als Neunjähriger in das Kinderballett der Bayrischen Staatsoper. Für eine weiterführende Schule blieb keine Zeit. Bosls Mutter schrieb, dass sein Tag ausgefüllt war mit morgens Schule, nachmittags Ballett, abends Hausaufgaben oder Mitwirkung in einer Kinderrolle in vielen Opernaufführungen. Nach Abschluß der Ballettschule sollte er aber weiter Klavierunterricht nehmen am Trappschen Konservatorium in München. Bosl entschloss sich ganz für den Tanz und kam in die Elevenklasse an der Bayerischen Staatsoper. Als jüngster Tänzer erhielt der erst 19-Jährige einen Vertrag an der Münchner Oper.

Seine Karriere zusammengefasst: Mit acht Jahren ins Kinderballett, mit 16 Jahren das Abschlussexamen, mit 17 Gruppentänzer, mit 18 Halbsolist und mit 19 Solist! 1968 wird in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung der 22-Jährige geschildert als „sehr schlank, sehr behend, sehr lustig, sehr versiert – und wenn nicht alles täuscht, so ist mit Heinz Bosl, dem jüngsten Solotänzer der Bayerischen Staatsoper, ein neuer Stern am Münchner Balletthimmel aufgegangen“. Privat fuhr er damals mit großer Begeisterung seinen Karman Ghia, wenn er von der Bühnenarbeit zu seinen Eltern in den äußersten Westen Untermenzings heimbrauste. Sicher auch privat ein Bayer: Bier war nach Aussage seiner Mutter sein Lieblingsgetränk. Und das als Balletttänzer!
1965-1974 waren Bosls große Jahre. Tanz war sein Leben. In einem Interview sagte er, dass Talent, Glück und Ehrgeiz den erfolgreichen Tänzer ausmachten. Er hatte aber auch Glück, dass er auf den bekannten Choreografen John Cranko traf. Er tanzte mit Margot Werner, Konstanze Vernon und Margot Fonteyn, mit der er die internationale Bühne betrat und in aller Welt begeistert gefeiert wurde. Er tanzte am 17.04.1975 zum letzten Mal mit seiner langjährigen Freundin Margot und sah nach deren Worten schon aus wie „ein schmaler Engel.“ Die Krankheit war schon vier Jahre vorher ausgebrochen, vermutlich Lymphdrüsenkrebs, und nur wenige wussten Bescheid. Am 12.06.1975 erreichte die Öffentlichkeit die Nachricht vom Tode des phantastischen Tänzers Heinz Bosls.
Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und vieler Prominenter aus Kunst und Kultur wurde Bosl im Familiengrab im Untermenzinger Friedhof begraben.

Mit Geschichten erzählen

Geschichte wird von Menschen gemacht, von Menschen erlebt, von Menschen erzählt. Walter G. Demmel bringt seinen Lesern die Geschichte der Stadtviertel mit Geschichten von Menschen nahe. Einer von ihnen ist Heinz Bosl.

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