Sonntagmorgen 9 Uhr. Trotz der frühen Stunde sind rund 20 Teilnehmer um Thomas Lenz versammelt und sind startklar zu einer Kräuterführung am Maisinger See. „Der Tisch ist reich gedeckt“, erklärt Lenz. Der Lehrer an der Montessori-Schule Starnberg veranstaltet mehrmals im Jahr für den Bund Naturschutz naturkundliche Wanderungen. Er schwärmt regelrecht von den vielen essbaren Kräutern auf den Wiesen. „Jetzt im Frühling ernähre ich mich täglich davon.“ Frisch aufs Brot oder im Salat, getrocknet als Tee. Oder einfach pur. Auch wenn viele der Teilnehmer schon Erfahrungen mit Giersch-Salat oder Bärlauchpesto gemacht haben, sie staunen dann doch, wenn Lenz erklärt, dass er für ihn sogar die Knospen der Bäume eine Delikatesse sind. Die erste Wildpflanze ist schon nach wenigen Metern entdeckt. Für die Laien ist es immer wieder verwunderlich, wie Lenz aus einer vermeintlich nur aus grünen Halmen bestehenden Wiese ein Kraut aus dem anderen pflückt: Breitwegerich, der auf der Haut verrieben gut gegen Insektenstiche hilft, Hirtentäschel, das gern im Salat gegessen wird, Gundermann, die alte Heilpflanze, die würzig schmeckt und gegen Entzündungen hilft. Und da, wo die Bäume anfangen, steht Waldmeister in Hülle und Fülle, den viele nur von Bowlen-Rezepten kennen, aber noch nie in natura gesehen haben. Etwas Enttäuschung macht sich nach dem Pflücken breit: „Der riecht ja gar nicht!“ Thomas Lenz kennt die Reaktionen schon. „Sein typisches Aroma erhält er erst dann, wenn er etwas angetrocknet ist.“ Und tatsächlich, nach wenigen Minuten steigt einem der typische Waldmeister-Duft in die Nase.
Immer wieder kaut Lenz herzhaft ein Blatt und ermutigt die anderen, ebenfalls die Pflanze zu tasten, zu befühlen, zu probieren. Der Geschmackstest fällt manchmal einhellig begeistert, manchmal unterschiedlich aus. Der Wiesenkerbel wird von einigen als angenehm süßlich gepriesen, von anderen als bitter verschmäht.
Das Interesse an den Pflanzen hat Lenz schon früh entwickelt. „Wenn meine Mutter beim Wandern war, hat sie uns immer den wilden Schnittlauch gezeigt“, erzählt er. Und auch die Oma ging aufs Feld, um frischen Kümmel zu ernten – ein Kraut, das er übrigens auch aus der Wiese zaubert. Lenz fühlt sich mit der Natur verbunden. Aber nicht nur. Dass so viel altes Wissen um die Kraft der Heilpflanzen verlorengegangen ist, ließ ihn nicht ruhen. Als junger Mann war er einer von ganz wenigen, die Kräuterwanderungen unternahmen und sich aus Spitzwegerich Hustentee braute oder vom Wiesenlabkraut naschte. Was damals noch Kopfschütteln auslöste, ist heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Für manche ist es sogar mehr als ein Hobby, wie die immer größer werdende Anzahl von Kräuterpädagoginnen beweist.
Eine von ihnen ist Gisela Hafemeyer, die mit von der Partie ist. Die Friedingerin verrät immer wieder, wie sie die Blätter veredelt, indem sie sie in der Pfanne brät, im Teig ausbackt oder mit Käse füllt. Auch wenn den Teilnehmern jetzt das Wasser im Munde zusammenläuft, beileibe nicht jedes Kraut ist schmackhaft. Der „Stinkende Hainsalat“ etwa macht seinem Namen alle Ehre. „Er schmeckt nach angebrannten Kartoffeln“, erklärt Lenz. Auch über den Löwenzahn wird viel gelacht, als der Kräuterkenner verrät, dass er seiner entwässernden Wirkung wegen auf französisch „Pissenlit“ heißt – was so viel wie „piss ins Bett“ bedeutet.
Gute drei Stunden später ist die Tour beendet, nicht ohne dass Lenz die Teilnehmer davor warnt, den Bärlauch nicht mit der Herbstzeitlose oder den Maiglöckchen zu verwechseln und die Kräuter nicht unbedingt dort zu sammeln, wo viele Hunde Gassi gehen. Am meisten wird man auf unbewirtschafteten Wiesen fündig, wo daneben nicht gespritzt wird. Das sagenhaftes Ergebnis auf der rund drei Kilometer langen Strecke: rund 40 verschiedene Ess- und Heilpflanzen. Das hätte wohl keiner für möglich gehalten.