Veröffentlicht am 07.02.2021 23:19

„Du wirst überleben”


Von ha
Stephen Nasser am Bahnhof in Seeshaupt, der Endstation des Todeszugs aus dem KZ Mühldorf. Hier wurde er als 14-Jähriger von den Amerikanern befreit. (Foto: Stephen Nasser)
Stephen Nasser am Bahnhof in Seeshaupt, der Endstation des Todeszugs aus dem KZ Mühldorf. Hier wurde er als 14-Jähriger von den Amerikanern befreit. (Foto: Stephen Nasser)
Stephen Nasser am Bahnhof in Seeshaupt, der Endstation des Todeszugs aus dem KZ Mühldorf. Hier wurde er als 14-Jähriger von den Amerikanern befreit. (Foto: Stephen Nasser)
Stephen Nasser am Bahnhof in Seeshaupt, der Endstation des Todeszugs aus dem KZ Mühldorf. Hier wurde er als 14-Jähriger von den Amerikanern befreit. (Foto: Stephen Nasser)
Stephen Nasser am Bahnhof in Seeshaupt, der Endstation des Todeszugs aus dem KZ Mühldorf. Hier wurde er als 14-Jähriger von den Amerikanern befreit. (Foto: Stephen Nasser)

Als einer der letzten überlebenden Zeitzeugen des Holocaust kämpft er gegen das Vergessen der Geschichte: Stephen Nasser wird am 17. Februar 90 Jahre alt. Im April 1945 wurde er als halbes Kind aus dem Todeszug in Seeshaupt befreit.

Er wächst sehr behütet in einer ungarisch-jüdischen Familie auf. Die Familie Nasser ist angesehen und wohlhabend, sie besitzt seit mehreren Generationen ein Juweliergeschäft in Budapest. Stephen und sein drei Jahre älterer Bruder Andris besuchen ein renommiertes Gymnasium. Mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Ungarn im Frühjahr 1944 ändert sich die Lage dramatisch. Die Familie wird nach Auschwitz deportiert und an der Rampe getrennt. Einige Tage später gelingt es den Brüdern, sich unerlaubt einer Arbeitskolonne für das Arbeitslager Mühldorf anzuschließen. Es ist ein Außenlager von Dachau, in dem mithilfe der jüdischen Arbeitssklaven eine riesige unterirdische Rüstungsanlage gebaut werden soll.

Tagebuch aus Zementsäcken

Einzig die Tatsache, dass Andris an seiner Seite ist, lässt den 13-Jährigen einen enormen Überlebenswillen entwickeln. Zusammen gelingt es den Brüdern, die Schwerstarbeit, die Mangelernährung und die Demütigungen durch das Wachpersonal zu überstehen, indem sie alles, was sie haben, teilen und sich gegenseitig immer wieder Mut zusprechen. Im KZ beginnt Stephen heimlich ein Tagebuch zu führen, das er aus Zementsäcken herstellt. Den Bleistift dafür erbettelt er sich von einem Wehrmachtsangehörigen, für den er Schnitzarbeiten macht. „Dein Tagebuch ist deine Waffe, es ist deine innere Kraft, damit wirst du überleben”, das sagt Andris immer wieder zu ihm. Er wird das Ende des Krieges nicht erleben. Völlig entkräftet stirbt er in den Armen seines Bruders.

Befreiung in Seeshaupt

Ende April 1945 werden Stephen und die restlichen Häftlinge des Lagers Mühldorf in einen Güterzug verfrachtet und zwar mit dem Befehl, irgendwo in den bayerischen Bergen getötet zu werden, um möglichst viele Spuren der Gräueltaten der Nazis vor den anrückenden amerikanischen Befreiungstruppen zu verbergen. Der Todeszug wird auf der Strecke irrtümlich von amerikanischen Kampfflugzeugen beschossen. Stephen wird schließlich am Bahnhof Seeshaupt – mehr tot als lebendig – von amerikanischen Truppen befreit. Auch er hat eine Kugel abbekommen. Es folgen längere Genesungsaufenthalte in einem US-Krankenhaus in Seeshaupt und einer jüdischen Rehabilitationseinrichtung in Feldafing. Dort schreibt der Junge sofort das Erlebte noch einmal auf. Im Zug war ihm das Tagebuch aus der Hand gefallen und er war zu geschwächt, es wieder aufzuheben. Ohne Reisepapiere macht er sich auf den gefährlichen Heimweg durch die russische Zone nach Budapest, in der vergeblichen Hoffnung, dort seine Mutter wieder zu finden. Nach einer Zwischenstation bei überlebenden Verwandten verlässt er Ungarn 1948, um in Amerika ein neues Leben zu beginnen.

Lesung zum Geburtstag

Stephen Nasser ist das amerikanische Pendant zu dem 2016 verstorbenen Max Mannheimer. Mit seiner Frau Francoise wohnt er in einem Seniorenheim in Las Vegas. Trotz seines hohen Alters und angeschlagenen Gesundheitszustands war er bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie unentwegt in Schulen unterwegs, um die Menschen über den Holocaust aufzuklären. Anstelle von Abneigung und Hass den Deutschen gegenüber spricht er von Versöhnung und Liebe. In seinem ersten Buch „Die Stimme meines Bruders” (My Brother's Voice) berichtet er von seinen unfassbaren Erlebnissen. Er stellte es im April 2011 zusammen mit dem Dokumentarfilm „Endstation Seeshaupt” des Regisseurs Walter Steffen vor. Anlässlich Stephen Nassers Geburtstag am 17. Februar zeigt das lokale Streamingportal OLAtv.de die Lesung von damals (www.olatv.de).

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