„Politik zum Anfassen“ machte es den Werbe-Spiegel-Lesern Martin Dürrfeld, Friedrich Huber und Nihal Yüksekdag möglich, den Bundestagsabgeordneten Dr. Peter Gauweiler in einem persönlichen Gespräch kennen zu lernen. In der vergangenen Woche trafen sich die interessierten Leser mit dem CSU-Politiker im Biergarten von Forsthaus Kasten in lockerer Atmosphäre zu einer sachorientierten Diskussion.
Martin Dürrfeld: Wenn ich das richtig verstanden habe, setzen Sie sich mit Ihrer Verfassungsbeschwerde für ein dezentrales Europa ein, und waren damit ja auch erfolgreich. Aber ist nicht eine starke zentrale Steuerung der EU nötig, um sich langfristig in der Welt neben den bestehenden und neu heranwachsenden Supermächten zu positionieren?
Dr. Peter Gauweiler: Angela Merkel hat das in Nürnberg ( auf dem CSU-Parteitag, Anm. d. Red. ) in ihrer Rede so ausgedrückt: Bei einer Weltbevölkerung mit vielen Milliarden müssen die Europäer zusammenstehen, um dem irgendwie Paroli bieten zu können. Das ist auch richtig. Ich kenne niemanden, der das Prinzip einer europäischen Einbindung ablehnt. Aber Sie sagen es ganz zurecht, mein Ziel ist ein dezentrales Europa. Wenn Sie die Debatten nach dem Urteil (zum Lissabon-Vertrag, Anm. d. Red.) verfolgt haben, so wissen Sie, dass es auch Stimmen gegen mich gab. Von Leuten, die einen Bundesstaat Europa wollen, sozusagen die europäische USA als die Vereinigten Staaten von Europa. Im Wappen des amerikanischen Präsidenten steht „E Pluribus Unum“ - „Aus vielen Eins“. Die Attraktivität von Europa ist aber nicht „E Pluribus Unum“, sondern „versöhnte Verschiedenheit“. Unterschied als Wert mit einer kulturellen Identität. Meiner Meinung nach ist die kleine Einheit die Antwort auf die Globalisierung. Alle Menschen haben Angst, dass sie zu Ameisen werden. Ich bin gegen einen Superstaat mit 450 Millionen Menschen und mit Brüssel als Zentrum. Ganz einfach, weil der Staat zu groß ist. Über das Modell der europäischen USA oder die „versöhnte Verschiedenheit“ muss man diskutieren. Natürlich gibt es Argumente für einen Superstaat, das will ich gar nicht bestreiten. Nur dürfen das dann nicht mehr die Politiker entscheiden, sondern das ist der Volksabstimmung vorbehalten.
Dürrfeld: Könnten Sie vielleicht kurz erklären, um was es genau ging bei Ihrer Klage gegen den Lissabon-Vertrag.
Gauweiler: Es ging um zwei Dinge: Erstens, ob dieser Vertrag und das Begleitgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Das Bundesverfassungsgericht sagt, der Vertrag ist nach einer ganz bestimmten Interpretation mit dem Grundgesetz vereinbar. Das Begleitgesetz allerdings nicht. Warum? Weil der Bundestag in diesem Begleitgesetz mehr Kompetenz an die EU-Gremien, insbesondere an den Europäischen Rat, abgegeben hat, als er von der Verfassung her dürfte. Es ging bei diesem Verfassungsstreit um die Frage, was der Bundestag an Kompetenzen von Deutschland abgeben darf und ob er die EU ermächtigen darf, sich weitere Kompetenzen zu holen. Ich sage: Nein. Und in diesem Punkt hat mir das Gericht Recht geben. Zweitens: Gibt es einen neuen Staat, der EU heißt, und kann der Staat Bundesrepublik Deutschland in diesem EU-Staat aufgehen, wie ein Stück Zucker im Kaffee? Und kann der Bundestag dies beschließen? Meiner Meinung nach: Nein. Das übersteigt die Kompetenz eines Parlaments. Das muss das Volk entscheiden. Und da hat mir das Gericht auch Recht gegeben.
Dürrfeld : Aber zu diesem Thema gibt es ein differenziertes Spektrum an Meinungen. Das macht das Ganze zum Teil auch so unverständlich. Wie lange ist diese Verfassungsklage denn gelaufen?
Gauweiler: Ich habe die Verfassungsbeschwerde 2008 eingelegt. In diesem Jahr fand die Abstimmung im Bundestag statt. Aber vor dem Lissabon-Vertrag gab es schon die Debatte um den EU-Verfassungsvertrag, der an einer Volksabstimmung in Frankreich gescheitert war und gegen den ich ebenfalls geklagt hatte. Diese damalige Verfassungsbeschwerde war obsolet, weil die Franzosen in ihrer Volksabstimmung gesagt haben: „Das wollen wir nicht.“ Gleiches gilt für Dänemark und die Niederlande. Als nächster Schritt kam dann der Vertrag von Lissabon., der gegenüber dem EU-Verfassungsvertrag nur gering verändert ist. Mir war klar: Das ist der alte Wein in neuem Schlauch und ich habe wieder dagegen geklagt. Den Lissabon-Vertrag gibt es als Taschenbuch mit 450 Seiten und er ist selbst für Juristen sehr schwer zu lesen. Wenn ich mich nicht darauf eingelassen hätte, hätte ich ihn sicher nicht gelesen. Aber dadurch, dass ich mich zusammen mit namhaften Staatsrechtsprofessoren sehr engagiert habe, hat die Auseinandersetzung mit diesem schwierigen Thema auch Spaß gemacht.
SamstagsBlatt: Wie kann das Thema EU in einem dezentralen Europa positiver gestaltet werden?
Gauweiler: Der EU-Vertrag enthält bereits viele brauchbare Grundsätze. Sie können zum Beispiel die Energieversorgung nicht nur regional regeln. Das Thema Einwanderung in den Kontinent von außen ist nur überregional zu regeln. Auch bei der Frage der Handelsbeziehungen mit anderen kontinentalen Mächten ist die EU ein wirklich wichtiges Hilfsmittel. Eigentlich geht es mit der europäischen Idee im Moment erst richtig los. Was einem die Sache ein bisschen verleidet hat, war ja nie die Idee, sondern das, was die Brüsseler Beamten die Vertiefung nennen. Das heißt, dass sie zu detailgenaue Vorschriften machen, um unter dem Wort der Harmonisierung eine Einebnung durchzusetzen. Zum Beispiel, was die Salzmenge auf Brezn betrifft. Da haben viele Länder Qualitätszeichen verloren. Das ist ungerecht. Wir haben ja schon Schwierigkeiten, Gerechtigkeitslücken im Vergleich der Bundesländer untereinander zu überwinden. Das ist einfach zu viel. Da geht die Gerechtigkeit vor die Hunde und übrigens auch die Freiheit.
Friedrich Huber: Warum schafft es auch dieses Mal die große Koalition nicht, ein Mehrheitswahlrecht mit zehn Prozent Klausel einzuführen und so für eine höhere Wahlbeteiligung zu sorgen?
Gauweiler: Ganz einfach: Weil keine Mehrheit da ist. Dazu bräuchte man eine verfassungsändernde Mehrheit. Über das Mehrheitswahlrecht wird in Deutschland schon lange diskutiert. Ich glaube, dass die Amerikaner ein sehr gutes Modell haben. Durch die so genannten „Primarys“, die Vorwahlen. Die Amerikaner haben es schon deswegen gut, weil sie die wichtigen politischen Entscheidungsträger ganz direkt wählen können. Das geht bei uns nur beim Bürgermeister. Durch die Vorwahlen können die Menschen in den USA aber auch schon vorher Einfluss nehmen, wer in der Partei abgestellt wird. Dadurch entsteht natürlich eine ganz andere Spannung. Der Wahlkampf bei uns in Deutschland ähnelt doch eher einem nassen Streichholz. Allein die Wahl Obama/Clinton und Obama/McCain war sogar für uns als Außenstehende eine hochspannende Geschichte. An diesem Wahlprozess waren in den USA 60 Millionen Menschen beteiligt. Man muss die Demokratie wieder spannender machen. Dann gehen die Leute auch wieder zum Wählen.
Nihal Yüksekdag: Thema Bildung: Um in Deutschland weiterhin Spitzenköpfe hervorzubringen, müssen alle Kinder dieses Landes (und im besonderen in Bayern) eine grundsolide Schulausbildung genießen können. Immer mehr Eltern klagen jedoch über mangelnde Lehrer im Schulbetrieb, über ausfallende Schulstunden und über zu große Klassen. Das bayerische Kultusministerium dagegen wartet mit Zahlen auf, die bezeugen sollen, dass in die Schulbildung viel mehr Geld gesteckt wird als je zuvor.
Gauweiler: Die Zahl der ersatzlos ausgefallenen Stunden in Bayern ist laut Kultusminister Spaenle in den letzten drei Jahren ganz beträchtlich gesunken. Und zwar von vier auf ein Prozent. Wenn Sie vom Abitur reden, dann haben die Schüler vier harte Jahre hinter sich. Das hängt mit der extrem umstrittenen Einführung des G8 zusammen. Ich habe vier Kinder im Alter von 17, 16, 13 und zehn Jahren. Mein Sohn ist der letzte Jahrgang G9 und meine Tochter der erste Jahrgang G8. Da sehe ich natürlich genau den Unterschied. Ich verstehe, warum man das G8 eingeführt hat. Es macht keinen Sinn, wenn ein Mensch, der volljährig ist, immer noch Schüler ist. Zudem haben wir einen zu großen Unterschied im deutschen Vergleich, weil Schüler in anderen Bundesländer früher Abitur machen können und so schneller ins Berufsleben kommen. Sie sparen sich ein Jahr. In der Rückschau war die Einführung des G8 in Bayern allerdings zu überstürzt. Da hätte man sich mehr Zeit nehmen müssen.
Yüksekdag: Ich finde aber, dass auch ein Prozent Ausfallstunden noch zu viel sind.
Gauweiler: Natürlich ist klar, dass der beste Status Null wäre. Man muss das aber trotzdem auch anerkennen. Ausfallstunden zu organisieren ist für die Schulverwaltung extrem schwierig. Wenn sie es dann schaffen, von vier auf ein Prozent zu kommen, ist das schon eine Leistung.
Werbe-Spiegel: Sind diese Zahlen aber nicht in Zweifel zu ziehen? Sie erscheinen schon sehr niedrig.
Gauweiler: Ich finde die Zahl auch extrem niedrig, aber auch eindrucksvoll. Gerade im Vergleich zu anderen Bundesländern.
Yüksekdag: Welche konkreten Möglichkeiten hat der Bund, hier einzuwirken (wenn überhaupt), auch wenn Bildung Ländersache ist?
Gauweiler: Überhaupt keine. Das geht uns nichts an und das wollen wir auch gar nicht.
Dürrfeld: Vor der letzten Wahl waren sich alle Parteien zumindest darin einig, sich zum Thema Mehrwertsteuererhöhung nicht verbindlich zu äußern. Nun heißt es in der Presse, dass eventuell die reduzierte Mehrwertsteuer auch auf 19 Prozent angehoben werden könnte. Wie stehen Sie dazu?
Gauweiler: Da muss ich widersprechen. Denn vor der letzten Wahl hat Frau Merkel gesagt, dass sie die Mehrwertsteuer um ein Prozent erhöhen würde. Das war damals ein heftiger Kampf. Die SPD hat Plakate gedruckt über die Merkel-Steuer usw. Dann kam die große Koalition mit der SPD, und die Mehrwertsteuer ist nicht, wie von uns vorgeschlagen, um ein Prozent, sondern um drei Prozent erhöht worden. Die Mehrwertsteuererhöhung wäre im Moment, wo alle darüber reden, dass die Leute konsumieren und kaufen sollen, kontraproduktiv. Letzten Endes geht es um die Grunddiskussion, ob es richtig oder falsch ist, in der jetzigen Zeit von Steuersenkungen zu reden, obwohl der Staat Schulden macht ohne Beispiel. Ich glaube, dass man aus einer Konjunkturkrise nur dann herauskommen kann, wenn der berühmte zündende Funke wieder anspringt. Ich würde es so machen, wie es Ronald Reagan 1981 nach der Ära Carter gemacht hat. In den USA gab es damals eine riesige Depression. Die USA standen ganz schlecht da. Reagan hat damals die Steuern für alle – von ganz oben bis ganz unten – radikal gesenkt. Das war die größte Steuersenkung überhaupt. Alle haben ihn für verrückt erklärt. Mit dieser Steuersenkung für alle hat er es geschafft, dass jeder auf einen Schlag mehr Geld in der Tasche hatte. Innerhalb eines ganz kurzen Zeitraums ist die amerikanische Konjunktur daraufhin wieder angesprungen. Seitdem gibt es die finanzwissenschaftlich heftig diskutierte These, dass sich solche Steuersenkungsprogramme selbst finanzieren. Da die Konjunktur so in einer Weise anspringt, dass selbst die Defizite, die der Staat vermeintlich hat, durch höhere Ausgaben jedes Einzelnen kompensiert werden. Das ist meine These, die ich nur durch diesen einen erfolgreichen Fall belegen kann.
Dürrfeld: Warum ist Deutschland eines der wenigen EU-Länder, in denen auch auf Arzneimittel der volle Mehrwertsteuersatz gezahlt werden muss?
Gauweiler: Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass sich Apotheker bei uns nicht beschweren müssen. Eine Mehrwertsteuersenkung in diesem Bereich ist nicht durchsetzbar. Da will ich auch keine Versprechung machen.
Huber: Warum werden Spenden an die Parteien nicht veröffentlicht?
Gauweiler: Ab 3000 Euro muss jede Spende veröffentlicht werden, sogar mit Erläuterungen. Es gibt einen Bericht des Bundestagspräsidenten, der jedes Jahr erscheint. Dort müssen die Parteien alle Gelder, die sie bekommen haben, akribisch aufschreiben. Wer das nicht ordentlich macht, muss den doppelten Betrag als Strafe zahlen. Der Bericht kann über Internet abgerufen werden und wird auch im Bundesgesetzblatt veröffentlicht.
Yüksekdag: Warum ist ein Austritt aus der GEZ, trotz Fernseher nicht möglich?
Gauweiler: Wir kämpfen für die GEZ und das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Einfach weil wir es sowohl qualitativ als auch kulturell für einen Vorteil halten, dass es nicht nur Privatfernsehen gibt. Ich bin früher überzeugter Anhänger des Privatfernsehens gewesen. Nur sehe ich dessen Entwicklung heute mit großer Enttäuschung. Es ist ein Skandal, was da teilweise gesendet wird. Das heißt nicht, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehern das Wahre ist und dass es da nicht auch mal erhebliche Aussetzer gibt. Aber was das Niveau grundsätzlich angeht, kann man froh sein, dass es das öffentlich-rechtliche Fernsehen gibt. Wir verteidigen das Öffentlich-rechtliche.
Yüksekdag: Wie kommt es, dass die Gebühreneinzugszentrale der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in der Bundesrepublik Deutschland (GEZ) geltendes deutsches wie europäisches Recht zum Datenschutz ignorieren darf, indem sie sich auf ihr verfassungsrechtliches Privileg der Rundfunkfreiheit beruft. Wie kann eine Verwaltungsgemeinschaft wie die GEZ über dem Recht des Datenschutzes stehen? Wieso kann in diesem Rahmen der mündige Bürger nicht auf das Einschalten von ARD, ZDF (und ihre Ableger) verzichten und sich nur auf die privaten Fernsehsender beschränken?
Gauweiler: Ich sehe keinen Weg, wie es anders gehen soll. Es gibt ja mittlerweile ein eigenes Gesetz zum Thema Radioträger. Das ist alles hochkompliziert, denn jedes Handy hat schon ein Radio. Aber das ist meine geringste Sorge. Ich habe gegen viele Datenabgleiche des Herrn Schäuble im Bundestag gestimmt, obwohl ich der CDU/CSU-Bundestagsfraktion angehöre. Mit geht da vieles extrem zu weit, und ich finde manche Sachen unerhört, die dürften nicht sein. Aber im Bereich der GEZ empfinde ich es nicht als großen Eingriff.
Yüksekdag: Aber es gibt Bundesländer, in denen es den Meldebehörden verboten ist, Daten an die GEZ weiterzuleiten. In Bayern ist es erlaubt. Das müsste doch die Regierung auch mal regeln.
Gauweiler: Ich bin dafür, dass es jeder weiterleiten sollte. Aber es gibt in Deutschland nun mal Bundesländer, die eigene Hoheitsverwaltungen haben und eigens gewählt werden. Deshalb ist das auch unterschiedlich geregelt.
SamstagsBlatt: Was würden Sie tun, wenn Sie Bundeskanzler wären?
Gauweiler: Zu aller erst würde ich die Bundeswehr aus Afghanistan abberufen. Dafür ist die Bundeswehr nicht gegründet worden. Ich war schon gegen den Irak-Krieg der Amerikaner. In Afghanistan herrscht mittlerweile ein klassischer Bürgerkrieg zwischen Stämmen des organisierten Verbrechens. Das hat im weitesten Sinne nichts mehr mit einem Verteidigungseinsatz zu tun.
Dürrfeld: Was, glauben Sie, würde passieren, wenn man alle Truppen aus Afghanistan abzieht?
Gauweiler: Je länger man drin bleibt, umso schwieriger wird es. Das kann kein Ausstieg von heute auf morgen sein. Aber es muss das sein, was die Amerikaner als Exit-Strategie bezeichnen. Das heißt, nicht immer mehr Militär zu stationieren. Im Moment ist das aber leider der Fall. Der Krieg wird immer aggressiver. Man kann nicht in einen Bürgerkrieg eingreifen und sich dann wundern, wenn die Bürgerkriegsparteien dort angreifen, wo man am empfindlichsten ist. Und am empfindlichsten sind wir nicht in Afghanistan, sondern im U-Bahnhof, mit unseren Kernkraftwerken oder mit unseren dicht besiedelten Großstädten. Meiner Meinung nach ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch hier wirklich etwas passiert.