Wer zahlt die Zeche für die Corona-Krise? Dafür muss es ein sozial gerechtes Gesamtkonzept geben, fordert der Sozialverband VdK in seiner Aktion zur Bundestagswahl „Sozialer Aufschwung JETZT!“, denn die soziale Spaltung habe sich während der Pandemie noch vertieft. Jetzt stellte der VdK seine Forderungen vor.
„Mehr Sozialstaat schafft Stabilität. Deswegen müssen die bewährten Elemente unseres Sozialstaats noch besser gemacht werden. Das ist der Auftrag an die nächste Bundesregierung“, sagt VdK-Präsidentin Verena Bentele. Das soziale Netz habe während der Pandemie die schlimmsten wirtschaftlichen Folgen aufgefangen – allerdings vor allem für diejenigen, die sozialversichert sind und beispielsweise jetzt mit Kurzarbeitergeld die Corona-Zeit überbrücken können.
„Alle sozialversichern JETZT!“ lautet deshalb eine zentrale Forderung des Sozialverbands VdK in seiner Kampagne zur Bundestagswahl. „Alle, die einer Tätigkeit nachgehen, sollen in die Sozialversicherung aufgenommen werden. Also auch Selbstständige, unabhängig von Branche und Umsatz, Minijobber, Beamtinnen und Beamte und Abgeordnete, aber auch Spitzenverdienende im Management und in Unternehmensvorständen“, erklärt Bentele. Ein solcher Systemumbau sei eine Frage der sozialen Gerechtigkeit.
„Eine Sozialversicherung für alle stellt das System auf eine breite finanzielle Basis und schafft Spielräume für dringend benötigte Investitionen, etwa im Gesundheits- und Pflegebereich. Das Umlagesystem der Rentenversicherung wäre nach Einbezug aller Bevölkerungsgruppen verlässlich, solidarisch und stabiler als parallele oder ergänzende Systeme wie die betriebliche und private Altersvorsorge“, sagt Bentele.
Während der Umbau des Sozialversicherungssystems ein längerfristiges Projekt ist, könnten die VdK-Vorschläge für ein sozial gerechtes Steuersystem sofort umgesetzt werden. „Wir bekämpfen nicht den Reichtum, wir bekämpfen die Armut. Untere Einkommen müssen entlastet werden. Diese Menschen dürfen nicht die Zeche für Corona zahlen“, stellt Bentele klar. Als erste Maßnahme fordert der VdK eine einmalige Abgabe auf Vermögen oberhalb von einer Million Euro in Höhe von einem Prozent. Zudem will der VdK Krisengewinner wie Amazon durch eine Digitalsteuer und Börsengewinner mit einer Finanztransaktionssteuer belegen. Steuerhinterziehung müsse konsequent verfolgt werden.
VdK-Landesvorsitzende Ulrike Mascher stellt die Maßnahmen zur Armutsbekämpfung auf den Prüfstand. „Die neue Grundrente schafft viele Enttäuschungen“, zieht sie eine erste Bilanz. Wegen der komplizierten Bedürftigkeitsprüfung treffen erst jetzt die ersten Grundrentenbescheide, zunächst für Neurentnerinnen und Neurentner, ein. Da dafür zudem der Steuerbescheid von 2019 zugrunde gelegt wird, überschreiten viele, die eigentlich grundrentenberechtigt wären, die Einkommensgrenze, weil sie ja 2019 meist noch ein Arbeitseinkommen hatten, das höher als die neue Rente ist. Sie bekommen erst mit zweijähriger Verzögerung den Grundrentenzuschlag ausbezahlt.
„Viele sind deshalb jetzt gezwungen, dennoch Grundsicherung im Alter zu beantragen – also genau das, was die Grundrente verhindern soll. Das ist absurd“, kritisiert Mascher. Die Durchsicht der ersten Bescheide zeigt, dass vor allem Alleinstehende mit dem Grundrentenzuschlag zwar einen spürbaren Aufschlag haben, dass aber gerade Frauenrenten auch dann nicht ausreichen, um sich etwa ein Leben in München leisten zu können. „Diese Frauen müssen trotzdem aufs Sozialamt gehen“, so Mascher.
Seit März 2020 wird bei Neuanträgen auf Grundsicherung („Hartz IV“) auf eine Vermögensprüfung ebenso verzichtet wie auf eine Prüfung der Angemessenheit des Wohnraums. Mascher fordert, diese in der Krise bewährte Praxis dauerhaft zu etablieren, da insbesondere die erstatteten Wohnkosten schon lange der Realität hinterherhinken – gerade hier in Bayern.
19 Prozent der bayerischen Grundsicherungshaushalte müssen aus dem Regelsatz von 446 Euro die Differenz für Wohnkosten bestreiten. Durchschnittlich 104,83 Euro, in München sogar 213,13 Euro, müssen an Miet- und Wohnkosten selbst aufgebracht werden. „Diese Menschen dürfen ja keine Rücklagen haben, sie sparen am Essen, an Medikamenten, an der Heizung. Das ist keine Armutsbekämpfung“, so Mascher. Um Armut wirksam zu bekämpfen, fordert der VdK eine differenzierte Neuberechnung der Regelsätze, die insbesondere die Bedarfe von alten Menschen und von Erwerbsgeminderten in den Blick nimmt. Für die Grundsicherung im Alter fordert der VdK einen Freibetrag für Einkommen aus der gesetzlichen Rente, wie er jetzt für Grundrentenberechtigte eingeführt wurde. Weiterhin soll es eine eigenständige materielle Kindergrundsicherung geben, damit Kinder dem Hartz-IV-System entkommen. Und schließlich muss der Mindestlohn auf 13 Euro angehoben werden, um eine Rente oberhalb der Grundsicherung zu garantieren.
VdK-Landesgeschäftsführer Michael Pausder analysiert die Corona-Pandemie anhand aktueller VdK-Statistiken. „Der VdK erweist sich gerade hier in Bayern als zuverlässige Anlaufstelle für alle, die mehr denn je befürchten müssen, unter die Räder zu kommen“, sagt er. Der sozialpolitische und sozialrechtliche Einsatz des Sozialverbands wird von der Bevölkerung honoriert. Das Mitgliederwachstum hält unvermindert an, 100 bis 250 Neuaufnahmen gibt es pro Tag. Derzeit werden über 745.000 Mitglieder gezählt, 34.000 davon sind seit Anfang des Jahres dazugekommen. Mehr als 200.000 Sozialrechtsberatungen wurden seit Anfang 2021 in den VdK-Geschäftsstellen durchgeführt, 3,2 Prozent mehr als im selben Zeitraum des Vorjahres.
Einige Trends lassen sich eindeutig der Pandemie-Situation zuordnen. So sind die Beratungen über die Möglichkeiten eines vorgezogenen Ruhestands deutlich angewachsen. „Der angespannte Arbeitsmarkt hat für Ältere und Schwerbehinderte fatale Auswirkungen. Viele nehmen schmerzhafte Rentenabschläge in Kauf, um diesem Druck zu entkommen“, erläutert Pausder. Es haben auch die Beratungen zur Erwerbsminderung zugenommen, denn die psychischen Belastungen der Pandemie hinterlassen bei Jüngeren ebenfalls ihre Spuren. Kurzarbeit, Wegfall von Minijobs, Kündigungen und Stellenabbau wiederum haben die Zahl der Beratungen in den Bereichen Arbeitslosengeld II („Hartz IV“), Grundsicherung und Sozialhilfe ansteigen lassen. Fast sprunghaft sind die Beratungen im Bereich der Pflegeversicherung gestiegen. Die Pandemie-Einschränkungen haben die Situation der Pflegebedürftigen auch in der häuslichen Pflege enorm verschärft.
„Wir wissen also, wovon und vor allem, für wen wir sprechen, wenn wir mit unseren VdK-Forderungen zur Bundestagswahl in die Öffentlichkeit gehen. Wir sehen täglich, welche Spuren die Krise hinterlässt“, erklärt Pausder.