Unsere Leser-Mitmach-Aktion „Politik zum Anfassen“ machte es den Werbe-Spiegel-Lesern Petra Baumgarten und Heinrich Zöller möglich, den Bundestagskandidaten der SPD im Münchner Westen, Roland Fischer, in einem persönlichen Gespräch kennen zu lernen. In der vergangenen Woche trafen sich die interessierten Leser, die sich jeweils mit zwei Fragen beworben hatten, bei schönem Wetter mit dem SPD-Politiker im Biergarten des Alten Wirt in Obermenzing, um in lockerer Atmosphäre eine sachorientierte und interessante Diskussion zu führen.
Übrigens: Wer ebenfalls Fragen an Roland Fischer hat, sollte auf keinen Fall den Werbe-Spiegel vom 2. September 2009 verpassen. Denn dann haben alle Leser noch einmal die Chance auf ein Treffen mit dem SPD-Bundestagskandidaten!
Werbe-Spiegel: Mindestlohn und 1-Euro-Job – beißt sich das nicht?
Roland Fischer: Das beißt sich sehr wohl. Ich halte die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, Stichwort: Hartz IV oder Agenda 2010, im Grundsatz für positiv. Vor allem deswegen, weil man Leute aus der zukunftslosen Sozialhilfe heraus geholt hat. Diese Menschen haben nun zumindest eine Chance, in den Arbeitsmarkt integriert zu werden. Aber: Wir lösen Ängste aus, weil niemand weiß, ob er irgendwann im Alter – mit 50 aufwärts – arbeitslos wird und vielleicht nie mehr einen Job bekommt. Jeder weiß, dass fast alles, was an Rücklagen gebildet wurde, an Vermögen und Altersversorgung angespart worden ist, dann aufgelöst werden muss. Ich halte es für wenig sinnvoll, dass man auf der einen Seite von den Menschen verlangt, sich eine zweite Säule für die Altersversorgung aufzubauen, also privat etwas zurückzulegen. Aber dann wird auf der anderen Seite von ihnen verlangt, dass sie bei Arbeitslosigkeit ihre Rücklagen auflösen.
Werbe-Spiegel: Soll das nicht geändert werden?
Fischer: Ja, es soll ein höheres Schonvermögen geschaffen werden, das speziell für das Alter vorgesehen ist. Da käme es mir sehr stark drauf an, das Kleingedruckte anzuschauen, weil es da sehr viele unterschiedliche Anlageformen gibt. Eine Variante könnte zum Beispiel sein, dass sich jemand ein kleines Einfamilienhaus oder eine Eigentumswohnung leistet mit dem Ziel, später im Alter von den Kosten ein wenig runter zu kommen. Das als Sicherheit muss dann natürlich genauso gewertet werden. Aber das Schlimmste, was aus meiner Sicht gemacht wurde, ist, dass man im Niedriglohnbereich sämtliche Bremsen weggezogen hat. Mit dem Ergebnis, dass der Staat mit Hartz IV den Wettbewerb um den niedrigsten Lohn eröffnet hat. Jetzt wird verzweifelt versucht, die schlimmsten Auswirkungen wieder rückgängig zu machen. Es kann nicht sein, dass zum Beispiel ein Diplomingenieur, der mit 52 Jahren arbeitslos wird, dann jede Arbeit, unter allen Bedingungen, an egal welchem Ort und für jeden Lohn annehmen muss. Das ist eine Geschichte, die nicht funktioniert. Mindestlohn ist aber auf der anderen Seiten für mich kein Ausgleich zu Hartz IV. Es muss möglich sein, dass jemand der ganztags arbeitet, von dem Lohn, den er bekommt, sich und seine Familie ernähren kann. Das ist in München natürlich besonders schwierig, weil wir extrem hohe Lebenshaltungskosten haben. Aber es gibt Branchen mit tariflichen Löhnen von unter fünf oder sechs Euro pro Stunde. Dabei haben gerade einmal die Hälfte aller Beschäftigten überhaupt einen Tarifvertrag. Das ist schlimm und geht so nicht.
Werbe-Spiegel: Welche Branchen sind das?
Fischer: Das sind besondere Dienstleistungen, zum Beispiel bei Reinigungs- und Hilfsdiensten. Aber auch in bestimmten Bereichen des privaten Gesundheitswesens gibt es Probleme – bei vielen Pflegediensten beispielsweise. Wir haben in den unterschiedlichsten Bundesländern sehr niedrige Löhne im Friseurhandwerk. Auch die Bezahlung im Überwachungsgewerbe ist eine Katastrophe. Es gibt eine ganze Menge Branchen, die davon betroffen sind. Was aus meiner Sicht dringend angegangen werden muss, ist der Bereich Leiharbeit. Wir haben immer öfter den Fall, dass Betriebe ihr klassisches Personal auslagern, abbauen oder wie auch immer man Entlassungen gerne umschreibt und bezeichnet. Im Gegenzug werden dann Zeitarbeitsfirmen damit beauftragt, die freien Stellen mit Personal zu besetzen. Die Leute bekommen aber wesentlich weniger Lohn als das Stammpersonal, obwohl sie die gleiche Arbeit machen. Interessanterweise zahlt das Unternehmen, das die Zeitarbeitskräfte beschäftigt, in der Summe genauso viel oder sogar mehr wie vorher für die eigenen Arbeitnehmer. Den Unterschiedsbetrag streicht die Zeitarbeitsfirma ein. Das ist eine ganz merkwürdige Sache. Mindestlohn sollte es auch deswegen geben, weil wir mit dem, was es momentan an Erwerbsbiographien und was es an buchstäblichen Löhnen gibt, eine Altersarmut aufbauen, bei der wir nicht abschätzen können, was da eines Tages auf uns zukommt. Als Beispiel: Wenn Sie 25 Jahre immer den Durchschnittsverdienst erzielt haben, also den Durchschnitt aller Beschäftigten, und brav Rentenversicherungsbeiträge gezahlt haben, kommen Sie im Moment auf eine Rente, die genauso hoch ist wie die Sozialhilfe. Wenn alle Reformen, die in den letzten Jahren in der Rente gemacht worden sind – Stichwort: Rentenfaktor, Nachhaltigkeitsfaktor, Rente mit 67 – konsequent umgesetzt werden, das wäre 2010 der Fall, dann brauchen Sie für die durchschnittliche Sozialhilfesatz-Rente schon 35 Jahre.
Petra Baumgarten: Wie soll man denn 35 Jahre lang immer den Durchschnittsverdienst erreichen?
Fischer: Das ist eigentlich unmöglich, weil man zu Beginn der beruflichen Laufbahn als Azubi einen Minimalverdienst hat und erst am Schluss des Berufsleben einen relativ hohen Verdienst. So ist in der Regel das System aufgebaut. Wenn man heute arbeitslos ist und Hartz IV-Leistungen bezieht, ist man in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert. Die Frage ist allerdings, mit was? Ein Jahr Arbeitslosengeld II-Bezug bedeutet eine monatliche Rente von 2,19 Euro. Die Durchschnittsrente in München – und das ist die höchste in der gesamten Republik – ist 871 Euro. Davon muss man Lebenshaltungskosten, Miete, Mietnebenkosten usw zahlen. Ich finde es faszinierend, dass sich die Arbeitgeber mitten in der Wirtschaftskrise nicht darüber beschweren, dass die ersten Manager schon wieder ihre Bonizahlungen vor Augen haben und auf der anderen Seite, der Arbeitgeberpräsident nach Lohnverzicht schreit. Das halte ich für katastrophal. Wir schreiten, und davon bin ich fest überzeugt, auf eine massive Altersarmut zu. Früher war es so, dass es zwischen der Unter- und Oberschicht eine große Mittelschicht gab. Wir entwickeln uns heutzutage immer mehr in die Richtung, dass es eine Oberschicht gibt mit rund 15 bis 20 Prozent. Dann gibt es eine Unterschicht, die extrem angestiegen ist. Und eine immer kleiner werdende Mittelschicht, die von beiden zusammen entsprechend in die Zange genommen wird. Unsere ganzen Finanzierungssysteme sind aber immer noch auf der Mittelschicht aufgebaut. Wir finanzieren immer noch alles über den Faktor Arbeit. Und für diese Entwicklung sind alle Parteien verantwortlich, da nehme ich meine eigene Partei mit keiner Silbe aus.
Werbe-Spiegel: Sie würden also sagen, dass die klassische Rente ausgedient hat?
Fischer: Überhaupt nicht! Ich halte die klassische Rente für das Erfolgsmodell schlechthin. Ich habe eine Ausbildung in der gesetzlichen Rentenversicherung gemacht und glaube daher, das System ziemlich genau zu kennen. Seit die Rentenversicherung 1899 von Bismarck eingeführt wurde, sind die Leute immer älter geworden, haben immer länger gelebt und haben immer später zum Arbeiten angefangen – mit Ausnahme des 1. und 2. Weltkrieges.
Werbe-Spiegel: Aber die Bevölkerung ist doch auch immer mehr angestiegen?
Fischer: Das tut sie aber heute streng genommen auch noch. Nicht mehr unbedingt durch Geburten, aber durch Zuzug. Die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist in den letzten Jahren wieder angestiegen. Was absolut auf Kosten der Rentenversicherung finanziert wurde, ist die Wiedervereinigung. Ich gönne jedem Menschen in Ostdeutschland seine Altersversorgung. Nur das ist eine Aufgabe, die damals die Steuerzahler hätten bezahlen müssen. Also alle, nicht nur die Rentenversicherten. Dann gibt es noch diese Alterspyramide, die immer gezeigt wird und nach der im Jahr 2020 oder 2030 ein Beitragszahler zwei Rentner ernähren muss. Eine wunderbare Geschichte, denn wenn man sich das Ganze etwas näher anschaut, dann weiß man, dass diese Zahlen aus einem einzigen Institut kommen. Dieses Institut wird finanziert von der Allianz, der Münchner Rück und anderen privaten Versicherungskonzernen. Dass dann der Ruf nach privater Zusatzversicherung relativ laut dokumentiert wird, liegt natürlich auf der Hand. Ein Faktor wird dabei völlig außen vor gelassen – und das ist die Produktivität. Bei uns erwirtschaften die gleichen Leute mit der gleichen Arbeitszeit von Jahr zu Jahr mehr, weil die Produktivität entsprechend steigt. Dadurch ist im Prinzip alles vorhanden, um auch die Rentenversicherung zukunftsfest zu machen. Sie haben in der gesetzlichen Rentenversicherung eine Rendite von zirka fünf Prozent. In der privaten Altersvorsorge gibt es im Moment viele, die mehr als dankbar wären, wenn sie auch nur die Hälfte davon als Rendite hätten. Ich habe da noch die ganzen Lebensversicherungsunternehmen im Hinterkopf, die gerade in den letzten Jahren ihre angeblichen Gewinnbeteiligungen von 20, 25 Prozent immer weiter herunter gefahren haben und momentan gar nichts mehr garantieren. Ich halte auch die Riester-Rente für etwas, das nur auf den ersten Blick gut ausschaut. Die gesetzliche Rentenversicherung ist definitiv besser als ihr Ruf. Sie ist zukunftsfest und sie hat bisher jede Krise überlebt. Deshalb halte ich die gesetzliche Rentenversicherung für das Beste, was wir je erfunden haben. Man muss nur dahin kommen, dass wirklich alle Leute einzahlen.
Werbe-Spiegel: Warum soll der Rentenbeginn bei hoher Arbeitslosigkeit auf 67 erhöht werden, wenn ein Arbeitnehmer mit 50 Jahren kaum mehr einen Arbeitsplatz erwarten kann?
Fischer: Damit habe ich ein großes Problem, denn ich halte die Rente mit 67 für nichts anderes als ein Rentenkürzungsprogramm. Natürlich werden die Leute älter. Sie können auch, wenn sie wollen, gerne länger arbeiten. Aber mir hat bisher noch niemand erklären können, wie zum Beispiel ein 65-jähriger Dachdecker noch seinen Job machen kann. Sollte ich im September in den Bundestag kommen, wäre es eines der ersten Dinge, die ich gerne angehen würde, die Rente mit 67 rückgängig zu machen.
Heinrich Zöller: Was kann man denn als „normaler“ Abgeordneter, und Vertreter einer bayerischen Minderheit, überhaupt in Berlin bewegen – noch dazu eingebunden in einen Fraktionszwang, wenn man für Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Vertrauen und Glaubwürdigkeit kämpfen möchte – und das vorrangig für seine Wähler in München?
Fischer: Weniger als man will, mehr als Sie befürchten. Natürlich sehe ich mich zum einen als Vertreter der Partei, von der ich ja aufgestellt wurde und mit der ich grundlegend übereinstimme. Im Grunde möchte ich mir aber morgens im Spiegel ins Gesicht schauen können, ohne dass mir dabei schlecht wird. Als Beispiel: Was mich in den letzten Jahren unglaublich angetrieben hat, war die Privatisierung der Bahn, die ich für einen eklatanten Fehler halte. Ich habe überall da, wo ich etwas tun konnte, versucht etwas dagegen zu unternehmen. Ich behaupte, dass es mir gelungen ist, durch ein Mitgliederbegehren innerhalb der SPD, das ich bundesweit eingeleitet habe und das dann am Schluss über 27.000 Unterschriften hatte, meine Partei dazu zu bringen, einen ursprünglich anderen Weg, den sie eingeschlagen hatte, nämlich die Bahn an die Börse zu bringen, zumindest jetzt für diese Legislaturperiode auszuschließen. Das steht definitiv im Regierungsprogramm. Man kann also sehr wohl etwas tun und sehr wohl Zeichen setzen – Fraktionszwang hin oder her. Ich kann Ihnen nicht garantieren, ob eine Mehrwertsteuererhöhung herauskommt – egal wer nach dem 27. September regiert. Ich kann Ihnen nur garantieren, dass ich, wenn ich im Bundestag sitze, einer Mehrwertsteuererhöhung niemals zustimmen werde. Selbst, wenn ich der Einzige in meiner Fraktion wäre!
Zöller: Ich finde es übrigens sehr mutig von Ihnen, für die SPD im Münchner Westen zu kandidieren.
Fischer: Ich habe eine spezifische Situation. Die Abgeordneten im Bundestag werden zur Hälfte direkt gewählt, zur Hälfte über die Landesliste der Parteien. Ich habe mich selbstverständlich für einen sicheren Listenplatz meiner Partei in Bayern bemüht – dumm wäre ich, wenn ich es nicht getan hätte. Ohne dass wir jetzt darüber philosophieren, was eine sicherer Listenplatz wäre... Schlicht und ergreifend muss man sagen, dass ich keinen sicheren Listenplatz habe. Ich habe Listenplatz 35, das heißt die SPD müsste in Bayern 35 Prozent bekommen. Ich bin zwar ein Optimist, aber auch nicht blauäugig, deshalb glaube ich nicht an die 35 Prozent. Meine einzige Chance ist es, direkt gewählt zu werden. Das halte ich im übrigen für nichts, wofür man großen Mut braucht. Denn der Wahlkreis im Münchner Westen ist der homogenste in ganz München. Bei der letzten Bundestagswahl haben meiner Vorgängerin, Stephanie Jung, zu Hans-Peter Uhl genau 5718 Stimmen gefehlt. Und das ist keine Zahl, die nicht im Bereich des möglichen wäre.
Zöller: Aber hatte die SPD damals nicht insgesamt eine bessere Prognose?
Fischer: Jein. Wenn man sich den Zeitraum Bundestagswahl 2002, 2005 und 2009 anschaut, dann war die SPD in den jeweiligen Umfragen ziemlich genau so weit von der Union entfernt, wie sie es heute ist. Einziger Unterschied: Damals ging die Schere zusammen, heute bewegt sie sich noch auseinander. Aber gerade hier im Münchner Westen ist etwas Charmantes passiert. Die CSU hat traditionell im äußersten Münchner Westen eine gute Ausgangslage. Was aber auch heißt, wenn man entsprechend hoch steht, kann man tief fallen. Es gibt keinen Wahlkreis in ganz München, in dem die CSU bei den Kommunalwahlen, Landtagswahlen und auch bei der Europawahl soviel verloren hat, wie im Münchner Westen.
Zöller: Wie wollen Sie Sympathien für die SPD wecken, wenn Spitzen-Genossen wie Peer Steinbrück und Ulla Schmid alles tun, um mit undiplomatischen Äußerungen und arroganten Verhaltensweisen der Partei und dem Ansehen Deutschlands zu schaden und mögliche Wähler zu vergraulen? Wie kann Herr Steinbrück einen Jean-Claude Junker, den ich derzeit als den größten Europäer überhaupt betrachte, beleidigen, weil er der Ministerpräsident eines Landes ist (Luxemburg, Anm. d. Red.), das auf der schwarzen Liste steht.
Fischer: Jean-Claude Junker ist vielleicht der größte Europäer im Moment. Grundsätzlich war sowohl der Beitrag von Peer Steinbrück als auch der von Ulla Schmid nicht die intelligentesten Dinge, die Politiker in den vergangenen 25 Jahren von sich gegeben haben. Dass das Beides ein Beitrag zur weiteren Politverdrossenheit war, ist für mich durchaus nachvollziehbar. Ich halte die Sache mit dem Dienstwagen allerdings für unendlich aufgebauscht und nur dem Sommerloch geschuldet. Ich würde die Leistung von Ulla Schmid nicht am Gebrauch ihres Dienstwagens messen. Was Peer Steinbrück betrifft: Er hat inhaltlich doch völlig recht, vor allem was Steuerflucht und Steuerhinterziehung betrifft. Und ist es nicht ab und zu mal ein notwendiges Mittel der Politik mit einer Zuspitzung, die dann auch gerne mal in Überspitzung abgleitet, auf Probleme aufmerksam zu machen?
Zöller: Wenn dabei niemand beleidigt wird, ja. Oder auch die Bemerkung Peer Steinbrücks, dass man in die Schweiz einmarschieren werde. So etwas geht doch nicht. Das weckt doch sofort Erinnerungen. Ich kann doch nicht Länder in dieser Form beleidigen, die eine so gewachsene Demokratie haben wie die Schweiz und die eine Bankenlandschaft darstellen, die es sonst nicht gibt auf der Welt, und die an ihren Gesetzen festhalten. Und das Ganze dann noch in Zusammenhang bringen mit einer Stadt in Schwarz-Afrika.
Fischer: Einverstanden. Da werden Sie jetzt keinen Widerspruch von mir hören. Aber man muss sich schon fragen, was gerade bei Steinbrück zu diesen Äußerungen geführt hat. Da liegt durchaus Einiges im Argen – sowohl in Luxemburg als auch in der Schweiz. Es kann nicht sein, dass unsere Leute über die Grenze fahren und ihr Schwarzgeld in die Schweiz bringen. Und die Schweiz schlicht und ergreifend ein Stück weit davon lebt, dass es eben genau diese Möglichkeiten gibt.
Werbe-Spiegel: Wie genau wollen Sie denn jetzt Sympathien für die SPD wecken?
Fischer: Ich glaube, die SPD hat in den letzten Jahren vor allem deswegen an Sympathie und Wählerstimmen verloren, weil sie den Menschen immer weniger klar machen kann, was die Partei eigentlich will. Es fehlt einfach das klare Profil. Natürlich hat damit auch die große Koalition zu tun. Was ich nie verstanden habe und bis heute nicht verstehe: In der großen Koalition sind zwei große Parteien. Beide haben eine bestimmte Grundmeinung zu irgendeinem Sachthema und müssen einen Kompromiss finden, weil sie gemeinsam regieren. Jetzt gehen beide mit ihrer Grundposition in den Abstimmungsprozess. Da beginnt übrigens mein erstes Problem, wie unsere parlamentarische Demokratie im Moment wirklich läuft. Denn die Entscheidungen werden meiner Wahrnehmung nach nicht im Deutschen Bundestag getroffen, sondern in diesen berühmten Runden, die Sonntag abends oder nachts stattfinden. Man einigt sich dann auf einen Kompromiss, und das ist auch gut so. Was ich aber nie verstanden habe, ist, warum dann anschließend die Vertreter aller Parteien, auch der SPD, vor die Kameras gehen und den gerade erzielten Kompromiss so verkaufen, als hätte er so schon immer im Grundsatzprogramm ihrer Partei gestanden. Entweder man gewinnt eine Abstimmung oder man verliert sie. Das ist doch völlig in Ordnung. Nur manchmal habe ich den Eindruck, dass Politiker ihre Meinung gerne so ändern, wie gerade das Lüftchen Wind kommt. Das macht es so schwierig. Ich finde es sensationell, diesen Hinweis müssen Sie mir bitte gestatten, dass ein CSU-Ministerpräsident momentan stündlich seine Meinung zu bestimmten Sachthemen wechseln kann, ohne dass er von irgendjemand dafür kritisiert wird.
Zöller: Es ist sicherlich nicht in Ordnung, wenn Politiker heute hü und morgen hott sagen. Aber das ist doch einer der Gründe, warum die Politiker insgesamt gesehen so einen schlechten Ruf haben. Man sieht keine Geradlinigkeit mehr.
Petra Baumgarten: Wie kommt man bei der Bildungspolitik wieder auf ein führendes Level?
Fischer: Schlicht und ergreifend mit sehr viel Geld. Es gibt im Regierungsprogramm der SPD einen Passus, den ich ausgesprochen gut finde. Es geht im Wesentlichen um eine Art Zuschlag auf den Spitzensteuersatz für sehr gut Verdienende. Hier sollen zwei Prozent draufgeschlagen werden, und dieses Geld soll dann zweckgebunden in die Bildung investiert werden. Damit könnte man sehr viel machen. Wir brauchen mehr und auch bessere Studienplätze. Wir brauchen eine Kostenfreiheit – nach unserer Vorstellung angefangen von der Kinderkrippe bis zum Masterstudium. Und das Ganze funktioniert nur mit Geld. Das ist die einzige Variante. Deswegen halte ich die Konzepte der anderen Parteien an der einen oder anderen Stelle für sehr merkwürdig. Mir ist völlig unklar, wie man auf der einen Seite die Steuern senken und Staatsschulden zurückzahlen will und dann noch in Zukunftsbereiche investieren will. Das ist für mich dreimal Geld ausgegeben, das man gar nicht hat. Das Problem ist, dass der Bund an vielen Stellen gar nichts mehr machen kann. Bildung ist prinzipiell Länderangelegenheit. Der Bund darf auch direkt den Kommunen nichts zugute kommen lassen. Das geht immer nur über den Umweg der Länder. Wir haben gerade in Bayern ein System, dass ich für sehr unsozial und undemokratisch halte. Es gibt keine Region, in der sich die Bildung und die Zukunftschancen dermaßen nach dem Geldbeutel der Eltern richten, wie in Bayern. Wir haben in München einen relativ hohen Anteil an alleinerziehenden Frauen, die ihre Kinder in irgendeiner Form versorgen müssen. Auch in München gibt es zu wenig Kindertagesstätten und -plätze. Da hat die Frau nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie findet einen Arbeitgeber, der mitmacht, dass sie irgendwie eine Art von Betreuung regeln kann. Oder sie muss notgedrungen zu Hause bleiben. Dann ist sie sehr schnell in der Ecke von Hartz IV. Mit den 281 Euro pro Kind, die es da im Moment gibt, ist weder Schulbedarf noch Klassenfahrten oder dergleichen zu finanzieren. Was wenig Aufmerksamkeit erregt hat, worauf ich aber sehr stolz bin, ist folgendes: Auf Vorschlag der SPD und gegen massiven Widerstand der Union wurde ab heuer zum ersten Mal der sogenannte Schulbedarf eingeführt. Das heißt, es gibt 100 Euro Aufschlag zu Beginn eines Schuljahres, um eben die wichtigsten Kosten zu decken. Jeder Euro, der in die Bildung gesteckt wird, ist sinnvoll angelegt.
Baumgarten: Wie können wir die Abwanderung der „klugen Köpfe“ verhindern – oder ist das nicht schlimm?
Fischer: Ich glaube nicht, dass nennenswert viele hochintelligente Menschen wie Forscher oder Wissenschaftler aus Gründen ins Ausland gehen, die irgendetwas mit Politik zu tun haben. Ich nenne mal ein Beispiel: Wenn ein Forscher ins Ausland geht, weil er an bestimmten Zellkulturen forschen möchte, die in Deutschland aus – für mich nachvollziehbaren richtigen Gründen – ethisch nicht erlaubt sind, ist das in Ordnung. Damit habe ich kein Problem. Wenn jemand ins Ausland geht, weil er Auslandserfahrung braucht, ist das in Ordnung, denn er kommt wieder zurück.
Baumgarten: Wenn er zurückkommt...
Fischer: In der Regel schon. Die Statistiken, die zur Abwanderung erscheinen, haben alle eine ganz große Schwäche. Es wird nämlich nirgends erfasst, warum die Leute abwandern. Die drittgrößte Bevölkerungsgruppe die abwandert, sind Polen. Das sind diejenigen, die irgendwann zu uns gekommen sind, um zu arbeiten und sich ein kleines Vermögen zu ersparen, mit dem sie dann in ihrer Heimat etwas anfangen können. Das hat mit Eliteflucht überhaupt nichts zu tun. Es gibt auch viele Leute aus dem Hotel- und Gaststättengewerbe, für die ein Aufenthalt im Ausland zu einem perfekten Lebenslauf gehört. Die kommen aber auch wieder. Da gäbe es noch zahlreiche Beispiele von Berufsgruppen, die alle wieder zurückkommen. Deshalb sehe ich das Thema Abwanderung nicht problematisch.