„Als Kinder waren wir oft in diesem Haus”, erzählt Trudy Creighton vor dem Eingang zur Aberlestraße 42, „wir haben unseren Cousin Willi besucht, der hier mit seiner Mutter wohnte.” Irgendwann war der Zehnjährige „einfach verschwunden”, erinnert sich Creighton, „alle unsere Nachfragen blieben unbeantwortet.” Schon als Kind hatte sie gespürt, dass mit ihrem Cousin etwas Unvorstellbares geschehen sein musste. Mehr als 70 Jahre dauerte es, bis die Wahrheit ans Licht kam: Erst als sie 2017 das Familiengrab übernommen hatte, erfuhr sie aus den Friedhofsunterlagen, dass auch ihr Cousin Wilhelm Gögel in diesem Grab beigesetzt worden war. Weil der Münchner Junge aufgrund einer Behinderung nicht zur Schule gehen konnte, hatte ihn das NS-Regime als „nicht bildungsfähig“ eingestuft. Im Oktober 1942 wurde das Kind in die „Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar” eingewiesen und am 15. April 1943 mit Medikamenten ermordet.
Genau 81 Jahre nach der Ermordung des Kindes wurde an der Aberlestraße 42 ein Erinnerungszeichen für Wilhelm Gögel aufgestellt. „Den Eltern wurde die beste Behandlung ihrer Kinder versprochen, erinnerte Sibylle von Tiedemann von der Gedenkinitiative für die „Euthanasie“-Opfer an die Verbrechen. Die Ärzte, in deren Obhut die Kinder waren, erprobten zugleich Verfahren, mit Medikamenten tödliche Erkrankungen vortäuschen zu können. Willis Mutter gegenüber behaupteten sie nach dem Mord, ihr Sohn sei an einer „Bronchitis” gestorben. Von Tiedemann erinnerte daran, dass selbst nach Kriegsende und Überwindung des NS-Regimes die Verbrechen kaum verfolgt wurden. Vier Ärzte der „Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar” seien später Direktoren bayerischer Krankenhäuser geworden - während die Hinterbliebenen ihrer Opfer, wie Stadtrat David Süß ins Gedächtnis rief, jahrzehntelang nicht über die Morde zu sprechen wagten.
„Das Morden fand nicht im luftleeren Raum statt”, sagte Süß, „es waren Ärzte, medizinisches Personal, Menschen in der Verwaltung beteiligt.” Allein in München wurden während der nationalsozialistischen Herrschaft etwa 2.000 Menschen wie Wilhelm Gögel Opfer der „Euthanasie”.
Süß erinnerte an gegenwärtige Angriffe auf gesellschaftliche Grundwerte wie die Inklusion: „Wer Menschen aus der Gesellschaft ausschließt, verlässt den Boden der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.” Kein Leben sei unwert. Süß kritisierte, dass die Stigmatisierung psychisch kranker Menschen bis heute anhalte.
Mirjam Zadoff, die Leiterin des NS-Dokumentationszentrums München, warnte vor zeitgenössischen Formen des Faschismus, der Teilhabe als Gefahr betrachte. In einer komplexer werdenden Gegenwart werden die Kämpfe um das Erinnern dramatischer. „Der Kampf um die Vergangenheit soll davon ablenken, dass es uns an Zukunftsperspektiven fehlt”, erklärte Zadoff. Zugleich nehme das Wissen um das, was damals geschehen sei, ab.
„Rechtsextreme sitzen in unseren Parlamenten; wir lassen Demokratiefeinde ins Herz unserer Demokratie”, ergänzte Maren Mitterer. Damals seien Opfer und Täter aus der Mitte der Gesellschaft gekommen. Wilhelm Gögel zu gedenken bedeute daher auch, sich gegen Hass und Hetze einzusetzen.
Dieses Erinnern sei wichtig und man werde es fortführen, bekräftigte Bezirksausschussvorsitzender Markus Lutz. Bislang gebe es in Sendling drei Erinnerungszeichen. „Wir schaffen weitere Zeichen im Viertel und in der ganzen Stadt!”, so Lutz.
„Wir stehen traurig vor dem Haus”, sagte Trudy Creighton bei der feierlichen Übergabe des Erinnerungszeichens an der Aberlestraße 42, „aber wir sind auch dankbar, weil es nach so langer Zeit für uns einen würdevollen Abschied von WIlli gibt.”
Etwa 10.000 Frauen, Männer und Kinder verloren während der NS-Diktatur in München ihr Leben aufgrund rassistischer, politischer und religiöser Verfolgung, wegen ihrer sexuellen Orientierung, ihrer tatsächlichen oder angeblichen Krankheiten oder ihres unangepassten Verhaltens.
Zum Gedenken an diese Menschen werden an ihren einstigen Lebensmittelpunkten Erinnerungszeichen in Form von Tafeln an Hauswänden und Stelen vor Häusern auf öffentlichem Grund angebracht. Mit der Durchführung des Projektes ist die Koordinierungsstelle Erinnerungszeichen im Stadtarchiv München beauftragt. Sie bearbeitet die Anträge und hilft den Initiatorinnen und Initiatoren bei ihren Recherchen.
Die Texte und Bilder auf den Stelen sind auf Augenhöhe lesbar.