Fluchtadresse: „Werste 17“


Von ES

Geboren 1934 in Masuren als Sohn eines Dorfschmiedes, verbrachte Siegfried Kalwa (Vorsitzender der AWO-Germering und im Vorstand der Landesseniorenvertretung Bayern) bis Ende 1944 eine „absolut sorglose Kindheit“. Im Herbst 1944 wurde er mit zehn Jahren von der Oberschule in ein „Kinderlandverschickungslager“ auf sogenanntes friedliches Gebiet von Neidenburg nach Görlitz verlagert; in diesem Jahr musste Kalwa sein erstes Weihnachtsfest ohne Eltern und seine drei jüngeren Geschwister erleben. Doch es sollte noch schlimmer kommen! Nachdem seine Schule zuerst im Januar 45 nach Plauen verlegt worden war, wurde sie im Herbst gänzlich aufgelöst; der Elfjährige musste sich völlig auf sich alleingestellt zu den Verwandten seiner Mutter durchschlagen: „Als wertvoll erwies sich hier, dass mein Vater nie locker gelassen hatte, bis wir Kinder unsere Fluchtadresse ‚Wreste 17’ und den Namen der Verwandten auswendig konnten – bei seinem Fronturlaub im Sommer 44 hat er uns nachts aus dem Schlaf gerissen und wir mussten sofort die Fluchtadresse wissen!“.

Wreste ist ein Stadtteil von Bad Oeynhausen in Nordrhein-Westfalen. Als Siegfried Kalwa nach entbehrungsreicher Flucht dort am 6. Dezember 1945 eintraf, war seine Großmutter schon angekommen. Er erfuhr, dass seine Mutter lebte, auf der Flucht von seinem Bruder getrennt worden war, sich jedoch mit der kleinen Schwester unterwegs nach Wreste befand, der Vater allerdings war im März 45 als Soldat verstorben. Erst im Februar 1946 erreichten Mutter und Schwester Wreste; überglücklich waren alle, als der kleine Bruder einen Monat später mit ehemaligen Nachbarn aus Masuren ebenfalls ankam.

Weihnachten wurde zwar ab 1946 wieder mit der Familie begangen, aber natürlich äußerst bescheiden: „Wir lebten zu viert in einem 16-Quadratmeter-Zimmer. Überleben hatte ich zwar gelernt, aber jetzt musste ich mich erst an die neue Umgebung gewöhnen. Überall herrschte Mangel, an Kohlen zum Heizen, beim Essen und Trinken – einfach bei allem. Meine Mutter hat geputzt und als Waschfrau gearbeitet, meine Oma ist als Spinnerin zu den Bauern gegangen und hat dafür ‚Naturalien’ gekriegt. Alle Vierteljahre gab es ein Carepaket, da hat die Mutter immer versucht, davon was ‚zu sparen’. Sie konnte nämlich sehr gut kochen und wollte an Weihnachten was Besonderes auf den Tisch bringen.“

Heiligabend wurde immer im engsten Familienkreis zu viert gefeiert. Zuerst ging es gemeinsam zum Kindergottesdienst, bei der anschließenden Bescherung gab es Handschuhe, Socken: „Eben das, was man brauchte und selbst herstellen konnte. An ein Geschenk kann ich mich noch gut erinnern: Ein Onkel schenkte mir ein gebrauchtes Buch, das war toll, weil ich eine richtige Leseratte war damals. Dann gab es kurz vor Weihnachten 46 und 47 die ‚Kinderbescherung’, zu der wir Flüchtlingskinder von der Britischen Rheinarmee eingeladen wurden – da konnte man sich den Bauch mit Plätzchen und Kakao voll schlagen und bekam auch noch was mit heim.“

Am Ersten und Zweiten Weihnachtsfeiertag hat sich die Großfamilie dann reihum bei den Tanten und Onkeln getroffen. „Schließlich lebten fünf Geschwister meiner Mutter in der Umgebung“, erinnert sich Kalwa, „wir hatten das funktionierende Netzwerk einer Familie und das war damals lebensnotwendig. Nicht nur an Weihnachten. Durch meine Lebenserfahrungen und meine ehrenamtliche Arbeit kann ich nur betonen: Im Grunde ist Weihnachten für mich etwas Alltägliches – Geboren wird jeden Tag, immer sind Menschen auf Herbergssuche und auch das Kämpfen ums Überleben geschieht Tag für Tag irgendwo auf der Welt.“ Wichtiger als alle Weihnachtsgeschenke sei es, für Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten der Kinder zu sorgen und diesen ein selbst bestimmtes Leben zu ermöglichen.

north