Derzeit leben 79 Millionen Menschen in Europa unterhalb der Armutsgrenze, beziehen also weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens ihres Landes. Nach Informationen der europäische Kommission lebt heute einer von zehn Europäern in einem Haushalt, in dem niemand arbeitet. Aber auch Arbeit schützt nicht immer vor dem Risiko der Armut: Für acht Prozent der Europäer genügt eine Arbeitsstelle nicht, um der Armut zu entkommen.
Für 2010 hat die Europäische Kommission das Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung ausgerufen. Es soll das öffentliche Bewusstsein für die Risiken von Armut und sozialer Ausgrenzung stärken und die Wahrnehmung für ihre vielfältigen Ursachen und Auswirkungen schärfen.
Unter dem Motto „München gegen Armut” will sich auch das Sozialreferat der Landeshauptstadt im Rahmen des Europäischen Jahres engagieren: mit Theateraufführungen, Ausstellungen, Vorträgen, Theater-Musik-Produktionen und vielen anderen öffentlichkeitswirksamen Aktionen soll deutlich gemacht werden, dass Armut auch in einer reichen Stadt wie München ein Thema ist. Zudem sollen die Bürger dazu motiviert werden, als solidarische Stadtgesellschaft gemeinsam etwas gegen Armut zu tun.
Das SamstagsBlatt hat mit dem Münchner Sozialreferenten Friedrich Graffe darüber gesprochen, wie sich Armut in München konkret auswirkt und mit welchen Strategien die Stadt Armut und soziale Ausgrenzung bekämpfen will.
SamstagsBlatt: Herr Graffe, wie hat sich die Armut in Münchens Bevölkerung in den letzten Jahren entwickelt?
Friedrich Graffe: München hat bereits vor zwanzig Jahren das Thema Armutsberichterstattung auf die Tagesordnung gesetzt. Seit 1988 – mit einem kleinen Knick im Jahr 2000 – steigt die Armut an. Derzeit gibt es 178.600 Münchnerinnen und Münchner, die von Armut betroffen sind.
Wer gilt denn eigentlich als arm?
Armut zu definieren ist sehr schwierig: Nach der Definition der EU-Mitgliedstaaten ist arm, wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommen hat. Das wären bei einem Ein-Personen-Haushalt 810 Euro. Doch Armut nur auf diese Zahl zu konzentrieren, wäre zu wenig. Armut heißt, Menschen sind aufgrund ihrer Wohn-, Gesundheits- oder Ausbildungssituation benachteiligt.
Ganz konkret sieht man das bei Kindern. Es gibt 21.000 Kinder und Jugendliche, deren Eltern Arbeitslosengeld II bekommen. Viele Familien mit Kindern haben Probleme, mit dem Regelsatz die notwendigen Ausgaben für Schule und Bildung zu bezahlen. Auch die Wohnkosten sind für viele ein Problem: Arme Haushalte haben weniger Wohnraum und müssen oft mehr mehr als 50 Prozent ihres Einkommen für Miete bezahlen. Als Vergleich – die durchschnittliche Mietbelastung liegt bei 33 Prozent.
Welche Priorität hat die Vermeidung von Armut und sozialer Ausgrenzung im Sozialreferat München?
Die Vermeidung und Bekämpfung von Kinderarmut ist eines unserer wichtigsten Ziele im Sozialreferat. Und dieses Ziel durchzieht alle Handlungsfelder: Die Kinder- und Familienpolitik, die Integrations-, die Arbeitsmarkt- und Wohnungspolitik sowie die Altenhilfe. Der Etat des Sozialreferats hat eine Milliarde Euro: Geld, das in allen Bereichen zur Prävention und Bekämpfung von Armut eingesetzt ist.
Was tut die Stadt konkret zur Vermeidung von Armut?
Ein wichtiges Instrument ist die Arbeitsgemeinschaft für Beschäftigung München GmbH (ARGE) in den Sozialbürgerhäusern. Zusammen mit der Agentur für Arbeit haben wir es im letzten Jahr geschafft, 11.000 Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Der Stadtrat hat bereits 2007 beschlossen, eine Million Euro zur Bekämpfung von Kinderarmut einzusetzen. Dazu gehört zum Beispiel, dass jedes Kind 100 Euro zur Einschulung bekommt. Außerdem beteiligt sich die Stadt daran, dass Kinder, deren Eltern das Mittagessen an den Schulen nicht zahlen können, kostenlos essen können.
Im letzten Jahr ist zudem die Einführung der IsarcardS beschlossen worden. Das ist eine verbilligte Monats- oder Wochenkarte zur Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel für Menschen, die den Münchenpass haben und aufgrund geringer finanzieller Mittel Ermäßigungen bekommen.
Und was ist mit den Münchnern, die auf der Straße leben?
Es ist uns gelungen, die Obdachlosigkeit zu senken. Mit Hilfe der Verbände haben wir in den letzten Jahren viele Wohnformen geschaffen, um Menschen, die auf dem freien Wohnungsmarkt keine Chance haben, unterzubringen. Die Obdachlosigkeit auf der Straße ist um 60 Prozent zurückgegangen.
Welche Maßnahmen will die Stadt 2010 für die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung umsetzen?
Die wichtigste Botschaft ist die des Oberbürgermeisters, dass bei sinkenden Einnahmen und notwendigen Einsparungen nicht im sozialen Bereich gespart werden soll, so dass wir alle Programme und Maßnahmen auch 2010 fortsetzen können.
Mit Hochdruck werden die Kinderbetreuungsplätze weiter ausgebaut. 2010 wollen wir in Krippen, in der Tagespflege oder in Eltern-Kind-Initiativen 1.057 neue Plätze einrichten, damit die Bürger Beruf und Familie leichter vereinbaren können. Das ist vor allem für die Alleinerziehenden eines der wichtigsten Instrumente der Armutsbekämpfung.
Lebenshaltungskosten, wie etwa Mieten, sind gerade in München sehr hoch. Was tut die Stadt in diesem Bereich, um Menschen mit kleinem Einkommen zu unterstützen?
Das kommunalpolitische Wohnungsbauprogramm „Wohnen in München” wird zum fünften Mal fortgeschrieben, damit jährlich 1.800 günstige Wohnungen für Menschen mit mittlerem oder geringem Einkommen gebaut werden können.
Der Stadtrat wird 2010 die Gesamtstrategie Altenhilfe beschließen, um Menschen im Alter mit verschiedenen Wohnformen gut versorgen zu können.
Mitte des Jahres wird das Aktionsforum für Familien die Broschüre „Günstiger leben in München” herausbringen. Dieses Buch erklärt, wo und wie man in München mit wenig Geld günstig leben kann und nennt entsprechende Adressen.
Vor zwei Wochen berichtete das SamstagsBlatt über die Situation von Rentnern in München, die mit sehr wenig Lebensunterhalt auskommen müssen. Welche Maßnahmen gegen Altersarmut unternimmt das Sozialreferat?
Das Sozialreferat schätzt, dass sich die Zahl der Menschen, die Grundsicherung im Alter brauchen, bis 2020 um mehr als das Doppelte auf 24.000 erhöhen wird. Der Stadtrat hat schon 2008 beschlossen, die Regelsätze für Menschen, die Hilfen gemäß SGB XII beziehen, aufgrund der hohen Münchner Lebenshaltungskosten von damals 347 auf 371 Euro monatlich zu erhöhen. Heute beträgt der Regelsatz für einen alleinstehenden Menschen über 65 Jahre in München 384 Euro.
Aber damit kommt man doch in München mehr schlecht als recht über die Runden!
Eine sehr wichtige Unterstützung leisten auch unser Stiftungen. Ältere Menschen werden 2010 mit Stiftungsmitteln in Höhe von 300.000 Euro unterstützt, um Hörgerätebatterien oder wichtige Medikamente kaufen zu können. Im nächsten Jahr starten wir ein neues Modellprojekt: Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter gehen vor Ort zu den Menschen, um sie zu Hause gut beraten zu können. Viele Menschen im Alter scheuen den Gang zu den Sozialbürgerhäusern oder haben oft auch die Kraft nicht dazu.
Spielen Themen wie Armut und soziale Ausgrenzung in der öffentlichen Diskussion einer wohlhabenden Stadt wie München überhaupt eine Rolle?
Ich finde, dass das Thema in der öffentlichen Diskussion gut vertreten ist. Der Vorwurf, Armut sei selbst verschuldet, ist Gott sei Dank so gut wie verschwunden. Wir wissen, dass aufgrund unsicherer Beschäftigungsverhältnisse Armut heute jeden treffen kann. Und deswegen bin ich froh, dass sich in München viele Menschen ganz konkret gegen Ausgrenzung und für soziale Gerechtigkeit einsetzen.