Veröffentlicht am 03.07.2008 11:40

„Keine Klasse über 30 Schüler“


Von SB
Nach Aussage der Grünen-Bildungsexpertin Simone Tolle sollen künftig 226 der 299 einzügigen Hauptschulen geschlossen werden. (Foto: photos.com)
Nach Aussage der Grünen-Bildungsexpertin Simone Tolle sollen künftig 226 der 299 einzügigen Hauptschulen geschlossen werden. (Foto: photos.com)
Nach Aussage der Grünen-Bildungsexpertin Simone Tolle sollen künftig 226 der 299 einzügigen Hauptschulen geschlossen werden. (Foto: photos.com)
Nach Aussage der Grünen-Bildungsexpertin Simone Tolle sollen künftig 226 der 299 einzügigen Hauptschulen geschlossen werden. (Foto: photos.com)
Nach Aussage der Grünen-Bildungsexpertin Simone Tolle sollen künftig 226 der 299 einzügigen Hauptschulen geschlossen werden. (Foto: photos.com)

„Die Bayerische Bildungspolitik steht für Chancengerechtigkeit und hohe Leistungen”, erklärte Bayerns Kultusminister Siegfried Schneider am Donnerstag, 3. Juli, in seiner Regierungserklärung im Bayerischen Landtag in München. „Das Bayerische Bildungswesen ist leistungsstark und gerecht. Wir lassen keinen Schüler im Stich, erwarten aber, dass jeder sich einbringen will.” Ihm gehe es darum, die Rahmenbedingungen für Unterricht und Erziehung weiter zu verbessern. So stelle Bayern allein im kommenden Schuljahr 2.245 zusätzliche Lehrkräfte ein, senke die Obergrenze der Klassen ab, baue die Ganztagsschulen weiter aus, erhöhe die Durchlässigkeit des Schulwesens und verstärke die individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler.

„ Man muss schon autistische Züge haben“

Scharfe Kritik übte die SPD-Landtagsfraktion: „Die Realität an unseren Schulen und das, was man im ganzen Land von den Eltern und Lehrern zu hören bekommt, hat nichts, aber auch überhaupt nichts mit Ihrer Schönrederei und dem Eigenlob zu tun”, warf Oppositionsführer Franz Maget Schneider vor. „Man muss schon autistische Züge haben, wenn man die Wirklichkeit in diesem Land so ausblendet”, so der SPD-Fraktionsvorsitzende. Die Regierungserklärung des Kultusministers habe Null an Neuem gebracht, stellte Maget fest und fragte Schneider und die gesamte CSU: „Wo waren Sie denn in den letzten 50 Jahren? Wer hat denn in diesem Land diese bildungspolitischen Versäumnisse zu verantworten?”

Schneider warnte davor, Bildungserfolg einseitig mit dem Besuch des Gymnasiums, dem Abitur und Hochschulstudium gleichzusetzen. Das Ziel „alle Talente zu fördern” setze Bayern so um: „Wir bieten jedem Kind das ihm Gemäße”. Nach dem Grundsatz „Kein Abschluss ohne Anschluss” eröffne Bayern den Schülerinnen und Schülern vielfältige Möglichkeiten, auf den vorhandenen Schulabschluss aufzubauen. Über 42 Prozent der Studienanfänger hätten die Hochschulreife über Fach- und Berufsoberschulen erreicht und nicht über den Weg des Gymnasiums. So könne ein Hauptschüler nach der Berufsausbildung die Berufsoberschule besuchen oder nach dem Mittleren-Reife-Zug auf die Fachoberschule gehen, bis hin zum Studium.

Wie Scheider weiter erklärte, werde Bayern im kommenden Schuljahr 2.245 zusätzliche Lehrer einstellen. Der Freistaat senkt zudem die Obergrenze der Klassengröße ab - bis 2013 auf 30 Schüler an weiterführenden und auf 25 Schüler an Grundschulen. „Es wird in Grund- und Hauptschulen zum nächsten Schuljahr keine Klasse über 30 Schüler mehr geben”, versprach der Minister. „Mit dem konsequenten Ausbau der Ganztagsschulen, der Ausweitung der Begabtenförderung, der Erhöhung der Durchlässigkeit des Schulwesens und der Stärkung der Hauptschule werden wir die sehr gute Basis weiter festigen”, betonte Schneider.

„ Schulpolitische Sonntagsreden“

Maget dagegen hielt Schneider und der CSU die schulische Realität in Bayern vor, die gekennzeichnet sei von zu vielen übergroßen Schulklassen, von einem dramatischen Lehrermangel, von zu wenig Schulsozialarbeit, zu wenig Schulpsychologen, zu wenig individueller Förderung, vom Hauptschulsterben und von einem Mangel an Ganztagsschulen im ganzen Land. Dies sei die schulpolitische Wirklichkeit, von der in der Regierunserklärung „überhaupt keine Rede war”, so der SPD-Fraktionschef. Magets zahlreichen Besuche und Gespräche im ganzen Land hätten ihm vor allem gezeigt, dass die Lehrer und Eltern es zunehmend leid seien, von den „schulpolitischen Sonntagsreden zu hören, ohne dass etwas geschieht.“ Alles, so Maget weiter, „könnte längst Wirklichkeit sein - nur hat es die CSU nicht getan.”

Im kommenden Schuljahr werden laut Kultusminister an über 330 Hauptschulstandorten rhythmisierte Ganztagszüge bestehen, ebenso an 40 Grundschulen und 30 Förderzentren. „Für das Schuljahr 2008/2009 haben wir alle Anträge auf Einrichtung einer Ganztagsschule genehmigt und wir haben auch allen Anträgen auf offene Ganztagsschulen für das kommende Schuljahr entsprochen”, so der Minister weiter. In rund 1700 Gruppen könne im kommenden Schuljahr die Mittagsbetreuung bis 16 Uhr ausgeweitet werden.

Bis zum Ende der kommenden Legislaturperiode will die Staatsregierung nach eigenen Angaben an rund 500 Grundschulen gebundene Ganztagszüge aufbauen, begonnen wird mit deren Ausbau ab dem Schuljahr 2009/2010. Bis zum Schuljahr 2013/2014 sollen für Schüler der Jahrgangsstufen 5 und 6 an Realschulen und Gymnasien auch rhythmisierte Ganztagsklassen eingerichtet werden. Derzeit bestehen solche laut Kultusministerium an zehn Realschulen und zwölf Gymnasien. In den höheren Jahrgangsstufen werden zudem offene Ganztagsschulen ermöglicht.

GEW spricht von Armutszeugnis

Ein Armutszeugnis sei es, die Klassenobergrenze für „weiterführende Schulen” erst bis zum Jahr 2013 auf lediglich 30 absenken zu wollen, kritisiert die GEW, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Bayern. Hilflos und unverbindlich wirke die Absichtserklärung, bis 2013 etwa ein Fünftel der Grundschulen mit gebundenen Ganztagszügen nicht als wirkliche Ganztagsschulen auszustatten. Noch dürftiger sei die Erklärung, bis 2013/2014 in den Eingangsstufen von Realschulen und Gymnasien „rhythmisierte Ganztagsklassen” einrichten zu wollen. Hier nennt Schneider nicht einmal eine Zielgröße, sondern brüstet sich sogar noch damit, dass derzeit an zehn von etwa 200 Realschulen und an zwölf von etwa 300 Gymnasien solche Klassen bereits bestehen.

Das gegliederte Schulwesen wird Schneider laut eigenem Bekunden weiter stärken. Der Freistaat investiere in ein starkes Gymnasium, eine starke Realschule und eine starke Hauptschule, die Schule für Handwerk, Technik und soziale Berufe. „Wir stehen ohne Wenn und Aber zu unseren Hauptschulen. Alle Schüler sollen diese Schule mit der Ausbildungsreife verlassen”, erklärte Schneider. Durch Kooperationen könnten auch einzügige Hauptschulen erhalten werden. Bayern werde die Zahl der Schüler - sieben Prozent - die bisher die Hauptschule ohne Abschluss verlassen, weiter senken. Bayern werde aber auch den Hauptschülern, die nach der Schule Probleme beim Eintritt in eine Ausbildung hätten, unter die Arme greifen. Maßnahmen seien das Berufsvorbereitungsjahr, das Berufseinstiegsjahr und das Berufsintegrationsjahr.

Streitthema Hauptschule

Wenn der Kultusminister die Hauptschule als die „Schule für Handwerk, Technik und soziale Berufe” bezeichne, sehe er diese Schulart „durch eine rosarote Brille“, meint Gele Neubäcker, Vorsitzende der GEW Bayern. In zahlreichen Handwerksberufen würden Schüler mit einem richtigen mittleren Bildungsabschluss bevorzugt, und für die meisten technischen Berufe werde der mittlere Bildungsabschluss vorausgesetzt. Ebenso für die allermeisten sozialen Berufe, auch wenn theoretisch manchmal ein Hauptschulabschluss genügen würde. Die angesehenen sozialen Berufe seien nur mit mindestens einem mittleren Abschluss zu erreichen, der Trend gehe zu anspruchsvolleren Voraussetzungen. „Selbst für das brennendste Problem, dass mehr als sieben Prozent eines Altersjahrgangs die Schule ohne irgendeinen Abschluss verlassen, hat Schneider nicht mehr übrig als die Absichtserklärung, diese Zahl senken zu wollen. Von konkreten Maßnahmen ist nicht die Rede“, kritisiert Neubäcker weiter.

Erst vor kurzem hatte die Grünen-Bildungspolitikerin Simone Tolle aus den Statistiken des Kultusministeriums errechnet, dass seit 2004 359 Orte in Bayern ihre Hauptschule verloren haben. Mehr als 15.700 Schüler seien nach Angaben der Politikerin davon betroffen gewesen. Tolle geht davon aus, dass sich die Zahl der Hauptschulen in Zukunft noch stärker dezimieren werde. Schneider dementiert dagegen diese Aussagen und spricht von „überzogenen Prophezeiungen ohne Substanz”. Mehr als 15.700 Schüler seien nach Angaben von Tolle davon betroffen gewesen. Sie geht davon aus, dass sich die Zahl der Hauptschulen in Zukunft noch stärker dezimieren werde.

Alternative Schulformen zulassen

Tolle schätzt, dass künftig 226 der 299 einzügigen Hauptschulen geschlossen werden könnten: „Sollte die CSU bei der Landtagswahl wieder die Mehrheit gewinnen, wird es zu großen Hauptschulzentren kommen – mit nur noch drei bis vier Hauptschulen pro Landkreis“, prophezeit sie. Auch der bildungspolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion Hans-Ulrich Pfaffmann warnt vor einem fortgesetzten Hauptschulsterben in Bayern: „Nach der Landtagswahl werden hunderte weitere Volksschulstandorte geschlossen werden.“ Die SPD-Landtagsfraktion fordert daher den Erhalt von wohnortnahen Schulen, statt Schließungen müssen alternative Schulformen zugelassen werden. Mittelfristig müsse laut Pfaffmann bei der derzeitigen Politik mit der Schließung von nahezu 400 Hauptschulstandorten gerechnet werden.

north