Buchstabe für Buchstabe erfasst Karl das Wort, das vor ihm steht. Das tut er solange bis er es zusammenhängend lesen kann. Kein Wort, kein Buch, kein Lexikon ist vor ihm sicher. Es macht ihm sichtlich Freude, aus einzelnen Buchstaben Wörter zu formen. Sie zu lesen und sich auszudrücken. Karl ist, wie er sagt, „fünfdreiviertel“ Jahre alt. Seine Eltern fördern seine Leselust, leiten ihn an, geben ihm „Lesefutter“. Dem Jungen bleibt noch ein Jahr unbeschwerter Kindheit. Er wird erst im Herbst des kommenden Jahres zur Schule kommen.
Die Erstklässler, für die schon in diesem Spätsommer „der Ernst des Lebens” beginnt, hätten mit solchem „Sprachvorsprung“ beste Startbedingungen. Doch nicht alle Schulanfänger haben gleiche Chancen. Viele hinken in ihrer Sprachentwicklung hinterher. Im Unterricht zeigen sich bei ihnen bald Schwierigkeiten, mit den Klassenkameraden mitzuhalten. Die möglichen Folgen: Der Lernerfolg bleibt aus. Die Schüler ziehen sich zurück oder werden auffällig. Um Kinder nicht mutlos werden zu lassen, ihnen zu helfen, sich mündlich und schriftlich gut auszudrücken, hat die Freiwilligenagentur „Tatendrang“ – sie wird getragen vom Verein für Fraueninteressen – das Pilotprojekt „Lesezeichen“ ins Leben gerufen. Es bringt Lesepatinnen und Lesepaten mit Schulanfängern zusammen. Die üben mit den Kindern den spielerischen Umgang mit Buchstaben, Wörtern und der deutschen Sprache. An neun Münchner Schulen sollen im kommenden Schuljahr Lesepaten die Lese- und Lernfreude bei Kindern wecken. Das Interesse ist groß. Deshalb sucht „Tatendrang“ weitere Freiwillige, die eine Lesepatenschaft für ein Kind in München übernehmen möchten.
Vor zwei Jahren wurden zum ersten Mal ehrenamtliche Lesepaten an die Schule zur Lernförderung in Milbertshofen vermittelt, unterstützt vom Rotary Club München. Christa Elferich, die für „Tatendrang“ das Projekt „Lesezeichen“ koordiniert und Mechthild Quast, ausgebildete Grund- und Hauptschullehrerin, die seit zehn Jahren Freiwillige berät, haben seitdem ausschließlich positive Rückmeldungen bekommen. Die Schulleiterin der Förderschule, Christine Rohde, sei begeistert von den Erfolgen, die sich bereits bei den Kindern eingestellt hätten, ist zu hören. Sie habe festgestellt, dass sich die Stellung von vielen Kindern im Klassenverband durch die Lese- und Sprachförderung wesentlich verbessert habe. Als es darum gegangen sei, das Projekt an weiteren Münchner Schulen zu etablieren, seien die Frauen aus dem Staunen nicht herausgekommen. Mechthild Quast: „Wir waren total überrascht, dass alle Schulen und auch die Eltern gleich freudig mitgemacht haben.“
Acht bis zehn Lesepaten würden an einer Schule eingesetzt. Die Lehrer schlügen die Kinder vor, die Hilfe benötigen. Christa Elferich und Mechthild Quast wissen, was diesen Kindern fehlt. „Die Kinder sollen spüren, da ist mir jemand wohlwollend gesinnt, da kommt jemand nur wegen mir und ist eine Stunde für mich da.“ Durch den spielerischen Umgang mit Buchstaben und Wörtern, durch Gespräche, werde das Vertrauen des Kindes zu sich selbst und zu den Erwachsenen gestärkt. Plötzlich erfahre das Kind für sich etwas ganz Neues: „Ich kann auch etwas.“ Einen Lesepaten zu haben, sei eine Auszeichnung haben die „Tatendrang“-Mitarbeiterinnen erfahren. Sogar auf hitzefreie Schulstunden sei deswegen verzichtet worden. Und auch andere Kinder wünschten sich jetzt Lesepaten.
Lesepaten sollten sichere deutsche Sprachkenntnisse und am Vormittag oder am Nachmittag Zeit haben. Sie müssen die Bereitschaft mitbringen, sich mindestens ein Schuljahr lang, für eine Schulstunde pro Woche zu binden und eine verlässliche, persönliche Beziehung zu ihrem Lesekind aufzubauen. Mechthild Quast: „Die Kinder sollen nicht enttäuscht werden.“ Weitere Eigenschaften, die Paten mitbringen sollen: „tolerant sein, verständnisvoll, sich in die Situation des Kindes einfühlen können, geduldig sein.“ Gleichzeitig sei es sehr wichtig, so betonen die „Tatendrang“-Frauen, sich abzugrenzen, die Familienumstände des Kindes zu respektieren. Elferich und Quast sagen von sich selbst: „Wir haben den schönsten Arbeitsplatz, den man sich denken kann. Es gibt Menschen, die brauchen Hilfe und andere, die diese Hilfe geben können, das bringen wir zusammen.“ Die Frauen beobachten, dass es in jüngster Zeit immer mehr junge Leute gibt, dich sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst werden, die einen Sinn nicht allein an ihrem Arbeitsplatz suchen. Andere sagen: „Mir geht es gut, ich möchte der Gesellschaft etwas zurückgeben.” Christa Elferich und Mechthild Quast hoffen darauf, dass sich noch viele Lesepaten melden werden, die Kinder dazu ermutigen, zu lesen und zu sprechen.
Weitere Informationen: Tatendrang München, Tel. 290 44 65, email: tatendrang@freiwilligenagentur.de, Internet: www.tatendrang.de .