Das vor fünf Jahren quasi über Nacht per Regierungserklärung eingeführte achtjährige Gymnasium belastet die Lehrkräfte und wird den Bedürfnissen der Schüler nicht gerecht, diagnostiziert der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV). „Der Grund: Es handelt sich um ein neunjähriges Gymnasium, das um ein Jahr gekürzt wurde. Wenn nicht Inhalte, Lernformen, Organisationsstrukturen und Leistungsmessungen neu konzipiert werden, fährt diese Schulart an die Wand“, erklärten BLLV-Präsident Klaus Wenzel und Peter Fauser, Leiter des Lehrstuhls für Schulpädagogik und Schulentwicklung der Friedrich-Schiller-Universität Jena vorige Woche in München. „Es ist höchste Zeit für einen tiefgreifenden Wandel. Die Verkürzung der Schulzeit kann nur gelingen, wenn das Gymnasium neu und anders gedacht wird.“
„Die derzeitige Diskussion ignoriert, dass es im 21. Jahrhundert nicht mehr nur um das bloße Vermitteln von Lehrstoff gehen darf. Kinder und Jugendliche müssen vielmehr in die Lage versetzt werden, selbständig Kompetenzen zu erwerben, Qualifikationen auszubauen, Bildung zu leben und zu erleben“, erklärte Fauser. Gefordert sei ein doppelter schulischer Perspektivwechsel - vom Lehren zum Lernen und vom Wissen zur Kompetenz. „Die Diskussion wird solange zu keinen guten Lösungen führen, solange sie sich nur mit den Problemen überfrachteter Lehrpläne und zu vieler Wochenstunden beschäftigt. Mit dem bloßen Hin- und Herschieben von Stunden und Lehrplaninhalten ist es nicht getan“, betonte der Wissenschaftler.
Auch die Diskussion um die Belastung der Schüler stehe unter rein quantitativem Aspekt. Das Kriterium hierfür sei ausschließlich die Zahl von Stunden mit Nachmittagsunterricht. „Die tatsächliche Belastung resultiert aber aus der massiven Ballung von Prüfungen im achtjährigen Gymnasium, die absolviert werden müssen“, sagte Wenzel. Mit der Zahl der Unterrichtsstunden und der Unterrichtsfächer erhöht sich die Zahl der Prüfungen. Der Nachmittagsunterricht werde vor allem dann zur unerträglichen Belastung, wenn die Zeit danach nicht für Freizeit und Erholung genutzt werden kann, sondern fast ausschließlich für das Pauken von Stoff.
Hinzu kämen in vielen Fällen Prüfungsängste, die sich negativ auf das Befinden der Kinder und Jugendlichen auswirken können. Schüler der achten Jahrgangsstufe haben am achtjährigen Gymnasium in Bayern derzeit 13 unterschiedliche Fächer, in der neunten sind es 14. Das bedeutet etwa 20 große Leistungsnachweise (Schulaufgaben) pro Schuljahr. Hinzu kommen noch mindestens 40 bis 50 kleine Leistungsnachweise, so dass Schüler in fast jeder Stunde mit Ausfragen oder Stegreifaufgaben rechnen müssen. „Daran lässt sich ermessen, wie stark der Druck auf den Schülern, aber auch auf den Lehrern lastet. Es muss also weniger darum gehen, Stundentafeln neu zu komponieren, sondern darum, die Zahl der Leistungsmessungen zu reduzieren“, forderte der BLLV-Präsident. „Lernen ohne Lust kann nicht erfolgreich sein. Kinder haben grundsätzlich Freude an Leistung - vorausgesetzt, sie sehen darin einen Sinn und im Ergebnis nicht nur eine Ziffernnote.“
Die Vielzahl der Fächer ermöglicht nur noch fragmentarische Lernprozesse. Fauser:„Es widerspricht jeder lernpsychologischen Erkenntnis, wenn sich zwölf- bis dreizehnjährige Schüler/innen bis zu achtmal am Tag für 45 Minuten mit vollkommen unterschiedlichen Lerngegenständen beschäftigen sollen. Ein solches zersplittertes Lernen verhindert jede Nachhaltigkeit und bringt zudem Unruhe in das Klassenzimmer.“ Fauser und Wenzel schlugen deshalb vor, dass Lehrer/innen vor allem in der Unterstufe in möglichst vielen von ihnen studierten Fächern in möglichst wenig verschiedenen Klassen eingesetzt werden.