Veröffentlicht am 10.02.2009 15:49

„Die Schizophrenie liegt im System“


Von SB
Margarete Bause, Fraktionsvorsitzende der Grünen im<br>Bayerischen Landtag. (Foto: sb)
Margarete Bause, Fraktionsvorsitzende der Grünen im
Bayerischen Landtag. (Foto: sb)
Margarete Bause, Fraktionsvorsitzende der Grünen im
Bayerischen Landtag. (Foto: sb)
Margarete Bause, Fraktionsvorsitzende der Grünen im
Bayerischen Landtag. (Foto: sb)
Margarete Bause, Fraktionsvorsitzende der Grünen im
Bayerischen Landtag. (Foto: sb)

Wenn am kommenden Freitag, 13. Februar, die Zwischenzeugnisse vergeben werden, sind in vielen Familien Streit und Tränen, Verzweiflung und Ratlosigkeit vorprogrammiert. Eltern sollten das Zwischenzeugnis nicht überbewerten, raten Lehrerverbände. Doch das ist oft leichter gesagt als getan, in einer Zeit, in der sich alles um Noten und Berechtigungen dreht. Der Erfolgsdruck ist groß und kann dazu führen, dass Schüler Versagensängste entwickeln, die Freude am Lernen verlieren oder in ihrer Entwicklung blockiert werden. Zum Thema „Zwischenzeugnisse – Freude oder Frust“ veranstaltete der Werbe-Spiegel ein Round Table-Gespräch mit Elternbeiräten, Lehrern und dem Leiter eines Nachhilfeinstituts. Das eingeladene Kultusministerium sagte die Teilnahme ab.

Werbe-Spiegel: Die Ausgabe der Zwischen- und Übertrittzeugnisse ist eine heiße Zeit an den Schulen. Für manchen Schüler werden sie zu einer Zitterpartie, in vielen Familien zum all bestimmenden Thema, auch die Lehrer stehen unter besonderer Belastung. Was läuft falsch, dass Schule die Beteiligten so sehr strapaziert?

Hans-Joachim Migotsch: In den Grundschulen ist der Übertrittsdruck auf weiterführende Schulen das Problem. Schon ab der 2. oder 3. Klasse wird alles getan, damit die Kinder gut bleiben oder gut werden. Bei Haupt- und Realschulen habe ich keine besonderen Probleme festgestellt. Die größten Probleme diesbezüglich gibt es in den Gymnasien, da durch das G8 die Belastung enorm hoch ist. In den letzten Jahren war es auch so, dass die Bücher noch nicht alle da waren und somit kein Lehrmaterial zur Verfügung stand. Es wurde nur mit HandOuts gearbeitet. Als Leiter von Nachhilfeinstituten in Laim und Pasing bekomme ich die Probleme aus allen Schularten mit. G8 war und ist immer noch das große Problem.

Woher kommt es, dass zum Teil keine Bücher zur Verfügung standen?

Bettina Henne: Übergangslektüre für ein Jahr wurde nicht gezahlt. Das war ein großes Problem, weil eigentlich drei verschiedene Bücher gebraucht wurden – die Alten, die für das Übergangsjahr und die Neuen.

Das dürfte aber nicht das grundsätzliche Übel sein?

Margarete Bause: In erster Linie sollte es um die Frage gehen, wie muss Schule sein, damit Kinder gerne und gut lernen. Das ist nicht der Fall, denn bei uns verkommt Schule häufig zu einer Sortieranstalt. Und die Noten sind die Sortierinstrumente. Es geht nicht darum, einzelne Talente zu fördern. Deswegen sind die Noten ein Druckinstrument, weil sie Eingangsvoraussetzungen bzw. Ausschlusskriterien sind. Da ist es kein Wunder, dass sich zum Teil Dramen in den Familien abspielen. Denn die Noten in den Zeugnissen eröffnen entweder Chancen oder sie nehmen sie weg. Dass alle Kinder zur gleichen Zeit, in gleichem Tempo das Gleiche lernen, mit der gleichen Methoden, das ist antiquiert und trotzdem beherrschend in unserem Schulsystem.

Monika Schulte-Rentrop: Zum großen Teil liegt das Problem in unserem Schulsystem. Solange wir ein dreigliedriges Schulsystem haben, müssen wir uns nicht wundern, dass der Druck bereits in der 1. Klasse anfängt.

Henne: Ich habe eine Tochter in der 1. Klasse und einen Sohn in der 4. Klasse. Die Klassenstärke beträgt im Schnitt 27 Kinder, die wirklich wild durcheinander gewürfelt in die 1. Klasse kommen. Teilweise auch mit großen sprachlichen Lücken. Es ist einfach in meinen Augen nicht in Ordnung, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Die Lehrkräfte sind einem unglaublichen Druck ausgesetzt, da sie versuchen müssen, alle Kinder auf ein gleiches Level zu bringen. Und das ist auch noch in der 4. Klasse so: Alle Kinder sollen die gleiche Leistung bringen, haben aber nicht die gleichen Grundvoraussetzungen mitgebracht. Wie soll ein Kind zum Beispiel ein Boot malen können, wenn es gar nicht weiß, was ein Boot ist. Das frustriert doch ungemein.

Frau Schulte-Rentrop, Sie sind Leiterin einer Übergangsklasse mit 20 Kinder aus 18 Nationen. Wie sehen Sie dieses Problem?

Schulte-Rentrop: Das ist genau die Krux, sich vorzustellen, dass alle Kinder auf dem gleichen Level sein sollen. Daran krankt unser Schulsystem. Aber die Alternative ist nicht, die Kinder auszusortieren, sondern sie entsprechend ihrer Fähigkeiten besser zu fördern. Kann man das auch für die Gymnasien so sagen?

Johanna Gronenberg: Gymnasien haben ja ein etwas leistungshomogeneres Klientel, was auf Ursachen zurückzuführen ist, die eben schon genannt wurden. Die Zwischenzeugnisse geben einen Überblick auf einen Zeitraum, ab dem es schwierig wird das Kind bis zum Jahreszeugnis wieder aus dem Brunnen zu holen. Benotungen und Gefährdungen sind für mich so lange nicht ausreichend viel wert, solange nicht eine entsprechende Förderung entgegengesetzt wird. Und daran scheitert es zwangsläufig auch aus Lehrermangel und Budgetknappheit. Daher sind Zeugnisse für mich eher ein Frustrationsinstrument.

Wo müsste man ansetzen, um den Kindern diese Frustration zu ersparen?

Angelika Schuster: Als Lehrerin einer 1. Klasse kann ich nur sagen, dass es viel zu spät ist, erst in der 3. oder 4. Klasse auf den Übertritt zu schauen. Für mich liegt das Geheimnis darin, einfach ganz viel Geld in die Frühförderung zu stecken. Da die Kinder eben schon in der 1. Klasse mit enormen Unterschieden ankommen. Das ist dann fast nicht mehr auszugleichen. Man müsste schon vom Kindergarten weg ganz intensive Frühförderung betreiben. Und dann müsste man im Idealfall pro Schule eine Förderlehrerkraft haben, die dann auf Antrag der Lehrer, Kinder mit Defiziten ganz gezielt fördern kann. Nur wenn man den Kindern diese Chance gibt, kann man auch die Probleme hinsichtlich des Übertritts lösen. Auch im Hinblick auf eine Selektion.

Henne: In städtischen Kindergärten gibt es ab einer bestimmten Kinderanzahl eine Fördererzieherin, die sich in regelmäßigen Abständen mit Kinder beschäftigt, die gewisse Defizite aufweisen und diese versucht auszugleichen. Und dann gibt es zusätzlich das „Deutsch 160“, in dem 80 Stunden Deutschunterricht von den Kindergärtnerinnen abgeleistet werden und 80 Stunden von den Grundschullehrerinnen. Und das bring schon etwas.

Eine solche intensive Frühförderung ist also ein erster Schritt in die richtige Richtung?

Schuster: Wir merken das in der 1. Klasse sehr deutlich, weil die Kinder dann einfach mehr Sprachgefühl mitbringen – gerade auch Kinder mit Migrationshintergrund. Aber trotzdem ist das nur ein Tropfen auf dem heißen Stein und sehr auf die Sprachförderung ausgerichtet. Natürlich ist Sprache die Grundlage, aber Kinder, die zum Beispiel im räumlichen Vorstellungsvermögen Defizite haben, fallen hier ganz raus. Man bräuchte eine umfassende Förderung, angefangen von der Motorik, bei der es ja auch bei vielen Schulanfängern mehr und mehr hapert, über das räumliche Vorstellungsvermögen, die mathematischen Fähigkeiten bis hin zur Sprachförderung.

Migotsch: Ein großes Problem ist auch, dass Kinder nicht wissen, wie man richtig lernt. Daher ist es sehr wichtig, den Kindern das schon in der Grundschule beizubringen. Wenn sie das beherrschen, kommt der Rest auch. Ein weiteres Problem ist, dass die Kinder nicht mehr lesen, sondern lieber fernsehen, was sich wiederum auf die Rechtschreibung und die Ausdrucksweise niederschlägt. Das ist zum Teil katastrophal. Das ist nicht nur bei Kindern mit Migrationshintergrund der Fall, sondern auch bei Deutschen.

Schulte-Rentrop: Frühförderung und Förderung von Kindern ist das Eine. Aber solange die Eltern nicht dahinterstehen, wird sich nicht viel ändern. Denn ich glaube, wir überschätzen den Einfluss, den wir als Lehrer haben. Die Zeit, in der die Kinder in der Schule gefördert werden, versinkt hinter der Zeit, in der sie möglicherweise null Förderung und null Anregung zu Hause bekommen.

Bause: Wir werden die Eltern diesbezüglich aber nicht erziehen können. Daher ist natürlich die Frage: Was können wir tun, damit diese Kinder trotzdem eine Chance haben? Und da ist für mich die Ganztagesschule ein wichtiger Punkt, in der man zum Beispiel am Nachmittag Zeit hätte, diese spezielle Förderung umzusetzen, um individuell auf die einzelnen Kindern einzugehen.

Aber was ist mit den Eltern, die sich nachmittags selber um ihre Kinder kümmern wollen?

Henne: Mir widerstrebt die einheitliche Ganztagesschule genau aus diesem Grund. Nicht, weil ich kein Verständnis dafür habe, dass wir sie dringen brauchen. Nur nicht allgemein und für jedes Kind. Ich zum Beispiel kümmere mich selber um meine Kinder.

Gronenberg: Ich gehöre zu den Eltern, die durchaus die Möglichkeit hätten, die Kinder nachmittags zu Hause zu betreuen. Trotzdem habe ich meine Kinder aus Überzeugung an einer Ganztagesschule angemeldet, an dem einzig durchgängig rhythmisierten Ganztagesgymnasium in München, das öffentlich ist, dem Elsa-Brändström. Und die Möglichkeiten dort, Förderung zu erfahren, sind für die Kinder enorm hoch. Denn nicht alle Eltern sind zu Hause in der Lage ihren Kinder zu helfen. Auch Kinder aus sogenannten bildungsferneren Familien haben so die Möglichkeit mitzukommen. Daher denke ich, dass das vorhandene Förderkonzept ein guter Weg ist, der es ermöglicht, die strenge Selektion ein bisschen aufzuweichen.

Henne: Wo bleibt aber in der Ganztagesschule das Kindsein? Bei uns zu Hause ist der soziale Kontakt enorm wichtig. Ansonsten bliebe nur das Wochenende. Das ist mir als Mutter und auch meinen Kindern zu wenig. Es bliebe auch keine Zeit mehr für Sport, was ja auch extrem wichtig ist.

Schuster: Ich weiß, dass das Elsa-Brändström-Gymnasium zum Beispiel mit dem TuS Obermenzing zusammenarbeitet, so dass am Nachmittag Sportstunden stattfinden. Natürlich müssten die Vereinen mit den weiterführenden Ganztagesschulen eng verzahnt werden.

Bause: Es gibt genügend Eltern, die händeringend für ihre Kinder einen Platz an einer Ganztagesschule suchen.

Warum ist die Ganztagesschule in unserer Schullandschaft noch immer keine Selbstverständlichkeit?

Gronenberg: Deutschland ist das einzige Land, das nicht flächendeckend Ganztagesschulen hat. Wir sind traditionell aus irgendeinem Grund davon überzeugt, dass diejenigen, die ihre Kinder den ganzen Tag in der Schule abstellen, böse Eltern sind. Andere Nationen sehen das anders. Die wichtige Frage ist doch, wie ein Ganztagesbetrieb gestaltet wird. Die Schule braucht Zeit, sich um die Kinder zu kümmern. Schule ist Schule, und ich möchte Mutter sein. Und das ermöglicht mir die Ganztagesschule.

Schulte-Rentrop: Eine Ganztagesschule macht nur Sinn, wenn ein breites Angebot an Kernunterricht, Lernstunden, Vergnügungen, Unternehmungen, Sport und Musik vorhanden ist. Solange wir glauben, das alle Kinder zur gleichen Zeit das Gleiche erreicht haben müssen und ansonsten selektiert werden, kann es nicht funktionieren. So wird man keinem Kind gerecht. Ich bin auch absolut dagegen, nur heterogene Gruppen zu bilden. Bei uns wird nur die Leistung gemessen. Die sozialen Fähigkeiten, die Persönlichkeit und auch die Teamfähigkeit sind überhaupt nicht gefragt. Aber genau das macht doch einen Menschen aus, auch im Hinblick auf die späteren Anforderungen im Beruf.

Bleibt die Vermittlung von sozialen Kompetenzen in unserem Schulsystem tatsächlich auf der Strecke?

Gronenberg: Die Schulen können das im Augenblick nicht leisten. Gerade die weiterführenden Schulen sind in der Situation, dass an allen Ecken und Enden Knappheit herrscht. Es können keine Förderangebote gemacht werden, auch wenn man merkt, dass es irgendwo den Bach runtergeht. Aufgrund des Mangels an Lehrkräften können viele Pflichtstunden nicht mehr abgedeckt werden. Wie sollen da die Leistungen besser werden und wie soll da intensiver gefördert werden? Das geht nicht. Das Problem beginnt beim Übertritt. Ab der 3. Klasse wird es ernst. Alle verfallen in Panik. Erst war alles halligalli und auf einmal wird es unglaublich stressig. So haben wir das empfunden. Das demotiviert die Kinder unendlich, so dass spätestens mit Beginn der 5. Klasse, egal an welcher Schulart, die Lust auf Schule erstmal weg ist. Die Kinder sind vollkommen bedient. Die Kooperation zwischen Grundschulen und weiterführenden Schulen muss viel enger werden. Auch die Lehrpläne dürfen nicht in einem Nichts enden und dann in der 5. Klasse in einem anderen Nichts wieder beginnen. Da klaffen enorme Lücken. Der Dialog der Schularten wäre schon mal ein Schritt in die richtige Richtung.

Schuster: An unserer Schule ist der Kontakt der Lehrer sehr eng. Ich denke, dass in der 1. und 2. Klassen sehr viele Grundlagen gelegt werden. In der 3. Klasse bricht deshalb Panik aus, weil der Druck der Eltern oder auch der Gesellschaft auf die Kinder erhöht wird – nicht weil die Lehrer anders unterrichten oder höhere Anforderungen stellen. Obwohl man schon sagen muss, dass das Tempo in der 3. Klasse anzieht. Kinder müssen ihren eigenen Weg gehen, mit Unterstützung der Eltern. Unser Schulsystem ist durchlässig, es ist keine Einbahnstraße. Doch viele Eltern sehen es als Schmach an, wenn ihr Kind nicht auf das Gymnasium geht. Diesen Druck geben sie den Kinder weiter, die dann als Neun- oder Zehnjährige darunter zusammenbrechen.

Das klingt so, als gäbe es außer dem Gymnasium keine andere Möglichkeit einen ordentlichen Schulabschluss zu erreichen.

Gronenberg: Die Schizophrenie liegt im System. Indem man versucht, altersgerechte Pädagogik mit einer strikten Selektion zu verbinden, die pünktlich zum Ende der 4. Klasse kommt. Irgendwann muss das Leistungsprinzip greifen. Dass irgendetwas faul ist an unserem Schulsystem, ist daran zu sehen, dass die Hauptschule stigmatisiert ist. Das sollte uns zu denken geben. Grundsätzlich findet keine motivierende Pädagogik statt. Da können es die Lehrer so gut meinen, wie sie wollen. Das System lässt es nicht zu.

Schulte-Rentrop: Fakt ist, dass die Hauptschule immer mehr zur Restschule wird. Jeder der bis drei zählen kann, versucht zumindest auf die Realschule zu kommen. Solange die Hauptschule in der Bevölkerung als Verwahranstalt gilt, in der eigentlich nichts mehr passiert, wird sich nichts ändern. Gleiches gilt für das Ansehen und die Akzeptanz von Hauptschulen.

Karin Funke: Ich bezweifle die Durchlässigkeit des Schulsystems sehr stark, denn an jeder Schwelle von einer Schule zur anderen gibt es nun mal eine Notenhürde.

Bause: Wenn man bedenkt, wieviel Druck herrscht, wie hoch die Selektion ist, wieviel Nachhilfe erforderlich ist, wieviele Umwege gemacht werden müssen, wieviele Kinder auch scheitern und total frustriert sind, frage ich mich, ob Schule wirklich so organisiert sein muss, wie es bei uns der Fall ist. Wir wissen doch, dass es auch anders sein kann. Auch aus Reformschulen bei uns. Wo diese Probleme gar nicht auftauchen, weil es bestimmte Schwellen gar nicht gibt. Warum muss man zehnjährige Kinder auf drei verschiedene Schularten aufteilen? Das ist für mich eine sehr ideologische Diskussion in der Bildungspolitik.

Müsste nicht Schule ohne Nachhilfe der Normalfall sein?

Henne: Es geht durchaus auch ohne Nachhilfe.

Gronenberg: Aber die Zahlen sprechen doch eine andere Sprache.

Funke: Ich vermisse an unserem Unterrichtssystem, dass es eigentlich zu wenig Übungszeit im Unterricht gibt. Die Stunden folgen so knapp hintereinander, dass für die Schüler keine Möglichkeit besteht, sich mit dem Stoff intensiv zu beschäftigen. Daher sollte meiner Meinung nach, auf eine Fachstunde eine Übungsstunde folgen. Das bedeutet natürlich längerer Unterricht und auch mehr Hausaufgaben. Das beobachte ich bei meinen Söhnen. Die Menge der Hausaufgaben ist manchmal marginal. Das könnte intensiver sein. Auch die Kontrolle der Hausaufgaben.

Frau Funke, am Max-Planck-Gymnasium gibt es keine Zwischenzeugnisse mehr. Wie sieht das konkret aus?

Funke: Schon seit einigen Jahren gibt es am Max-Planck-Gymnasium keine Zwischenzeugnisse mehr. Stattdessen gibt es drei Zwischenberichte – im Dezember, im April und eine Woche vor den Sommerferien. Das sind im Grunde Notenblätter, die im Laufe des Jahres immer ausführlicher werden. In den Zwischenberichten wird alles festgehalten, was an Noten gesammelt wird – Referatsnoten, mündliche Noten, Exen, Schulaufgaben, Betragen, Mitarbeit. Am Schluss steht dann in jedem Fach eine Note, anhand der man sehen kann, ob es sich beispielsweise um eine gute oder schlechte Vier handelt. Das Ganze ist sehr transparent, gerade für die Eltern. Zudem ist an die Zwischenberichte jeweils ein Elternsprechtag geknüpft.

Henne: Das ist mehr Information als man üblicherweise bekommt. Heuer ist es in der 4. Klasse zum ersten Mal so, dass es statt eines Zwischenzeugnisses eine sogenannte Zwischeninformation gibt. Das ist aber nichts anderes als ein Zeugnisabriss, in dem alle Fächer mit Noten aufgeführt sind. Aber alle Eltern wollen doch genau wissen, wie es hinter dem Komma aussieht. Doch die zwei Kommastellen fehlen einfach.

Bause: Diese Zwischeninformation wurde von der schwarz-gelben Koalition beschlossen, mit der Absicht, den Übertritt nicht mehr ganz so hart zu gestalten. Der Druck soll rausgenommen und der Elternwille gestärkt werden. Aber in der Praxis bewirkt das genau das Gegenteil. 14 Tage vor den Zwischenzeugnissen gibt es diese Zwischeninformation mit Gesprächsangebot und im Mai kommt dann das Übertrittszeugnis. Außerdem soll es noch sogenannte Gelenkklassen zwischen der 4. und 5. Jahrgangsstufe geben, von denen kein Mensch weiß, was das überhaupt werden soll.

Gronenberg: Wir an unserer Schule würden auch gerne Zwischenberichte einführen. Es hat administrative Gründe, dass sie bei uns noch nicht eingeführt sind. Der Zwischenbericht ist einfach ein feinerer Seismograph und viel aussagekräftiger.

Funke: Die Datenpflege für die Zwischenberichte ist natürlich ein ziemlicher Aufwand.

Andrea Hellmann: Die Frage ist hinsichtlich des Übertritts doch auch, inwiefern die Grundschullehrer die Kinder überhaupt richtig beurteilen.

Schuster: Ich denke schon, dass Grundschullehrer die Kinder beurteilen können. Sie sehen das Kind ja im Vergleich mit allen anderen Kindern. Natürlich passieren auch Fehleinschätzungen, niemand ist schließlich vollkommen. Ohne Zweifel bietet ein Hauptschulabschluss auf den ersten Blick weniger Zukunftschancen als das Abitur. Aber wenn man einem Kind die Chance lässt sich zu entwickeln, dann sind die Schulen durchaus durchlässig – von der Hauptschule über M-Zweig zum Abitur. Kinder dürfen sich nicht immer am Limit bewegen.

Bause: 40 Prozent aller Abiturienten machen das Abitur nicht über das Gymnasium, sondern über die Fachoberschule. Aber das sind in der Regel nicht die Schüler, die sich über Hauptschule, M-Zweig und Realschule hocharbeiten, sondern Gymnasiasten, die in die Realschule wechselten und von dort aus dann auf die Fachoberschule gehen. Die Durchlässigkeit findet in den allermeisten Fällen nur von oben nach unten statt. Das muss man ganz klar sagen.

Hellmann: Aber mittlerweile ist es schon schwierig, vom Gymnasium in die Realschule zu kommen.

Migotsch: Der direkte Weg heißt inzwischen nämlich vom Gymnasium in die Hauptschule.

Henne: Die Problematik liegt darin begründet, das die Realschulen komplett überfüllt sind. Es werden einfach keine Kinder mehr aufgenommen.

Gronenberg: Was zur Folge hat, dass auch Gymnasiasten ganz schnell bis unten durchrauschen können. Im dreigliedrigen Schulsystem gibt es keine Gleichwertigkeit, sondern nur ein Unten oder Oben. Man lässt den Kindern kaum Zeit, sich zu entwickeln.

Schulte-Rentrop: Das Gebot ist doch, dass man zweigleisig denkt. Das eine ist die Vision, die wir haben, das andere die Realität. Das geht nicht zusammen. Die Vision ist dazu da, sich ihr anzunähern. Das heißt aber auch, dass jeder versuchen muss, sich mit den praktischen Bedingungen auseinanderzusetzen. Wenn der Staat, die Stadt oder die Gemeinde nichts tut, muss man selber etwas machen – möglichst optimal für sich und die Schüler. Das heißt aber nicht, dass man dabei die Vision aus den Augen verlieren darf.

Gronenberg: Dazu kommen aber auch noch die unterschiedlichen Lehrerverbände. An den Grund- und Realschulen ist der BLLV (Bayerischer Lehrer- und Lehrerinnenverband, Anm. d. Red.), an den Gymnasien der Philologenverband. Da gibt es zur Zeit eine Auseinandersetzung, die sehr erbittert geführt wird und in der er es in erster Linie um Geld und um Pfründe geht. Es wird verhindert, dass z.B. Grundschullehrer in der 5. Klasse am Gymnasium eingesetzt werden, weil Leute Angst bekommen, dass ihre angeblich wesentlich wertvollere Ausbildung entwertet würde. Es herrscht die Angst vor, dass Gymnasiallehrer dann nicht mehr um so viel besser bezahlt werden wie Grundschullehrer. Argumente, aus denen ganz klar ersichtlich wird, dass es hier um ein standespolitisches Problem geht. Aus diesem Grund werden die Schulsysteme unter anderem auch fein säuberlich getrennt. Daran wird sich in der nächsten Zeit sicherlich auch so schnell nichts ändern. Wobei man sagen muss, dass sich der BLLV dabei wesentlich revolutionärer bewegt als es andere berufsständische Organisationen tun.

Laut BLLV beliefen sich die Kosten für über 45.000 Schuljahr-Wiederholer im vergangenen Jahr in Bayern auf 270 Millionen Euro. Der Verband fordert die Abschaffung des Sitzenbleibens. Das Geld sollte stattdessen für bessere Lern- und Arbeitsbedingungen ausgegeben werden. Wie beurteilen Sie diese Forderung?

Henne: Man muss einfach unterscheiden, wie alt die Kinder sind. Dieses ewige noch früher und noch früher Einschulen, obwohl das Kind die Voraussetzungen nicht schafft, bringt nichts. Viele Kinder müssen die 1. oder 2. Klasse wiederholen, nur weil Eltern meinen, ihr Kind unbedingt mit gerade mal fünf Jahren einschulen zu müssen. Anstatt es einfach noch ein Jahr Kind sein zu lassen. Von daher denke ich, dass man die Möglichkeit zum Wiederholen in der Grundschule auf keinen Fall abschaffen sollte, in weiterführenden Schulen aber schon.

Funke: Unsere Schulen sind alle so einseitig ausgerichtet. Jede Schule verfolgt immer den gleichen Weg. Wenn man aber bedenkt, dass Kinder unterschiedliche Begabungen haben, könnten doch auch Schulen auf dementsprechende Schwerpunkte ausgerichtet werden. Dass zum Beispiel ein besonders sprachbegabtes Kind auf eine Schule geht, in der Sprachen verstärkt angeboten werden. Natürlich muss ein Minimum an Mathematik und anderen Grundfertigkeiten vermittelt werden. Das ist wichtig. Klar, im gymnasialen Bereich gibt es Wirtschaftsgymnasien oder Fachoberschulen mit künstlerischer Ausrichtung. Aber grundsätzlich könnte man doch alle Schulen untergliedern im Hinblick auf die späteren Berufe. Da sehe ich das zusätzliche Geld gut aufgehoben. Man müsste grundsätzlich die Wahlmöglichkeiten breiter streuen.

Renate Jung: Die Gelder in umfangreiche Fördermöglichkeiten zu stecken, finde ich sehr gut. Am Gymnasium könnte man so den einen oder anderen sicherlich auffangen. Aber es gibt auch Kinder, denen es etwas bringt, wenn sie die Klasse noch einmal wiederholen – auch auf dem Gymnasium. Oft sind das Kinder, die schon zur Grundschulzeit hinterherhinkten und denen das zusätzliche Jahr durchaus etwas bringt. Die ihren Weg danach durchgehen können. Das müsste man von Fall zu Fall abschätzen.

Aber es kann doch nur ein Entweder/Oder geben?

Hellmann: Es gibt beispielsweise jetzt schon das Vorrücken auf Probe. Das finde ich eine traumhafte Einrichtung. Da wird den Kindern Druck gemacht, dass sie etwas lernen müssen. Wir sprechen hier ja nicht nur von Kindern, die nicht lernen können, sondern auch von denen, die nicht lernen wollen. Die einfach faul sind und an sich keine Förderung brauchen, sondern die selber merken müssen, dass es sich auszahlt, wenn man lernt. Mit dem Vorrücken auf Probe kann man meiner Meinung nach viel bewegen.

Bause: Ich halte Sitzenbleiben für Quatsch. Man fällt durch wegen zwei Fünfern in zwei Fächern oder einer Sechs in einem Fach. Wenn ein Kind schlecht ist in Mathematik, wird ihm das Wiederholen im Zweifelsfall auch nichts nutzen. Da braucht es eine andere Herangehensweise. Es ist ein Jahr verloren, das Kind ist frustriert und wird deswegen nicht unbedingt innerlich reifen. Abgesehen davon kostet es uns unglaublich viel Geld. Wenn man das Sitzenbleiben abschaffen will, muss man natürlich vieles ändern. Man muss sich überlegen, wie man eine Schullaufbahn gestaltet – das fängt schon bei der frühkindlichen Förderung an. Die Übergänge, z.B. vom Kindergarten zur Grundschule, müssen anders gestaltet werden. Nicht: Hier ist der Kindergarten zu Ende, und da fängt der Ernst des Lebens an. Ziel muss sein, dass sich die Schulen an die Kinder anpassen und nicht umgekehrt.

Migotsch: In diesem Fall hätten wir ein Kurssystem. In den Fächern, in denen das Kind gut ist, passt alles. Aber in den schlechten Fächern wird es immer hinterher hinken. Wie wollen Sie das denn fördern? Da müsste dann wieder eine eigene Klasse gebaut werden usw. Da bin ich mir nicht sicher, ob da im Endeffekt 270 Millionen Euro ausreichen würden.

Schuster: Es ist ein großer Unterschied zwischen dem Sitzenbleiben im Gymnasium oder in der Grundschule. Wenn man das Sitzenbleiben wirklich abschaffen oder zumindest absolut minimieren will, dann reichen die 270 Millionen Euro natürlich nicht aus. Da müsste man viel, viel mehr investieren und schon im Kindergarten angefangen. In der Grundschule müssen die Kinder einfach die grundlegenden Fertigkeiten beherrschen, denn es hat einfach keinen Sinn, ein Kind, dass nicht lesen kann, in die 2. Klasse zu schicken.

Gronenberg: Sitzenbleiben gehört unbedingt abgeschafft. Es müssen pädagogische Methoden in das bestehende Schulsystem implementiert werden. Das Schulsystem wird sich dann schon selbst regulieren. Wir bilden nicht den universal Gelehrten aus, auch nicht am Gymnasium. Das ist eine Illusion. Jeder hat seine Stärken und seine Schwächen. Wer in Fächern gut ist, sollte dort besonders gefördert werden. Aber es muss immer noch genug Zeit zur Verfügung stehen, um in schlechten Fächern aufholen zu können. Deshalb bin ich gegen das Sitzenbleiben und für eine angemessene Förderung.

Migotsch: Viele Kinder kommen zu mir, weil sie etwas nicht verstanden haben. Der Lehrer erklärt etwas in einer Klasse mit 32 Kindern. Wenn da nur zwei oder drei Blödsinn machen, kann das nicht funktionieren.

Schulte-Rentrop: Ich bin eindeutig für die Abschaffung des Sitzenbleibens, um den Kindern das Gefühl des Versagens zu nehmen. Das sind negative Erwartungshaltungen, die sich dann ganz schnell immer wieder erfüllen. Das ist als Lehrerin nicht mein Ziel. Ich möchte Schülern lieber dabei helfen, dass sie ihr Leben halbwegs meistern können und dass sie halbwegs zufrieden sind. Ich für meine Schulart kann nur sagen: Sofort das Sitzenbleiben abschaffen und für das Geld, das dann frei wird, hätte ich viele Vorschläge. Ich würde gerne in jeder Schule eine Lernwerkstatt haben, das ist etwas sehr lernpädagogisches. Ich würde gerne zwei Lehrer pro Klasse haben, weil es wunderbar ist zu zweit zu unterrichten. Ich würde gerne den Ausbau der Schulsozialarbeit und mehr Schulpsychologen haben. Gerade in diesem Bereich sind viele Schulen absolut unzureichend ausgestattet. Und natürlich würde ich noch in die Lehrerbildung Geld stecken.

Hellmann: Ganz abschaffen würde ich das Sitzenbleiben nicht, denn für manche Schüler ist es sicherlich sinnvoll, wenn sie ein Jahr wiederholen. Dann ist es der Entwicklung auch nicht schädlich, sondern eher förderlich. Aber natürlich gibt es auch Kinder, denen das Sitzenbleiben durchaus schadet. Vielleicht wäre schon ein Anfang gemacht, wenn man – wie am Max-Planck-Gymnasium – eine Art Notenstandsmeldung in allen Schulen einführt. Dann wissen die Eltern schon relativ früh, wie es wirklich aussieht. Und auch die Lehrer müssen sich etwas mehr anstrengen, weil man dann auch sieht, wie viele Exen geschrieben werden, wie oft mündliche Abfragen gemacht werden usw. Das wird ja alles dokumentiert. Und es gibt auch keinen Stillstand zum Zwischenzeugnis. Das sind Dinge, die vielleicht schon einmal vorab gemacht werden könnten. Dann müsste man über das Sitzenbleiben eventuell gar nicht mehr so viel nachdenken. Man muss viel früher ansetzen. Das ist natürlich kein Allheilmittel. Aber es sind kleine Schritte, um gewisse Dinge gar nicht erst entstehen zu lassen.

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