Bisher ist es in der Schlaganfallversorgung unangetasteter Standard, Patienten für schwierige Eingriffe in ein spezialisiertes Zentrum zu verlegen. Das umgekehrte Prinzip ist eine weltweite Neuerung, verspricht aber elementare Vorteile dem Patienten bleibt die risikobehaftete Verlegung erspart, er erhält die komplette Behandlung in Heimatnähe und nicht zuletzt einen entscheidenden Zeitvorteil.
Die Pilotphase des Hubschrauberprojekts »Flying Interventionalists« läuft seit Februar 2018 und soll zeigen, ob sich dahinter das wegweisende Modell der Zukunft verbirgt. Schlaganfall-Experten aus dem Klinikum Harlaching haben das Projekt initiiert und leiten die Untersuchung, die von den Bayerischen Krankenkassen zunächst für einen Zeitraum von drei Jahren finanziert wird. Das wissenschaftliche Projekt ist die Weiterentwicklung des vor 15 Jahren vom Klinikum Harlaching ins Leben gerufenen telemedizinischen Schlaganfallnetzwerks TEMPiS.
Rund 260.000 Menschen erleiden jedes Jahr in Deutschland einen Schlaganfall. Der Hirnschlag verursacht häufig bleibende Behinderungen und ist hierzulande die dritthäufigste Todesursache. Vielen schwer betroffenen Patienten kann seit einigen Jahren eine neue Behandlungsmethode helfen: die Thrombektomie. Dabei wird das Blutgerinnsel, das eine Hirnarterie verstopft, mechanisch mithilfe eines Katheters entfernt und die Durchblutung wiederhergestellt werden. Der Eingriff erfordert eine hohe medizinische Expertise und muss so schnell wie möglich durchgeführt werden. Erhält der Patient die Behandlung rechtzeitig, lassen sich dadurch schwere Behinderungen auch bei schweren Verläufen oft vermeiden.
Die Problematik: Es gibt nur wenige Spezialisten, die einen solch komplizierten Eingriff vornehmen können. Diese Neuroradiologen befinden sich meist in großen Schlaganfallzentren, welche sich wiederum in großen Städten bilden. Patienten, die ihren Schlaganfall auf dem Land erleiden, müssen für die Thrombektomie aufwändig in ein solches Zentrum verlegt werden. Durch den Einsatz der »fliegenden Interventionalisten« können die Patienten nun viel schneller behandelt werden, ohne dem Risiko einer solchen Verlegung ausgesetzt zu sein.
Und so funktioniert es: Kommt ein Patient mit Schlaganfallsymptomen in eine regionale Partnerklinik, wird er umgehend per Videokonferenz von einem Neurologen aus München telemedizinisch untersucht. Stellt sich heraus, dass bei dem Patienten eine Thrombektomie durchgeführt werden muss, machen sich die fliegenden Ärzte per Helikopter auf den Weg. Zur gleichen Zeit wird der Patient in der Partnerklinik bereits optimal vorbereitet. So kann das Interventionsteam, bestehend aus Arzt und Assistent, gleich nach der Ankunft mit dem Eingriff beginnen. Im Vergleich zu einer konventionellen Verlegung können so nach Einschätzung des Projektleiters, Dr. Gordian Hubert, bis zu 100 Minuten eingespart werden. Ein entscheidender Faktor, denn bis zur Behandlung sterben nach einem Schlaganfall im Schnitt jede Minute 1,9 Millionen Nervenzellen ab.
Die »Flying Interventionalists« sind ein Projekt des telemedizinischen Schlaganfallnetzwerks TEMPiS, das bereits im Jahr 2003 gegründet wurde. TEMPiS gehört mit 21 angebundenen Kliniken, zwei Telemedizinzentren in Harlaching und Regensburg und mehr als 10.000 Patienten pro Jahr zu den größten Netzwerken seiner Art in Europa. Die Ärzte in den Partnerkliniken werden bei der neurologischen Untersuchung, der bildgebenden Diagnostik und der Therapieentscheidung von ausgewiesenen Schlaganfallspezialisten in den Zentren telemedizinisch, also per »Video-Liveschalte«, unterstützt. Mit bis heute über 60.000 durchgeführten Telekonsilen hat sich das Konzept des Netzwerks als Erfolg erwiesen: höhere Versorgungsqualität, geringere Sterblichkeit, kürzere Verweildauer und frühere Diagnose heben den Versorgungsstandard in ländlichen Regionen annähernd auf das gleiche Niveau wie in der Stadt.
Die »Flying Interventionalists« sollen nun dazu beitragen, dass die Patienten auch in Zukunft über den gesamten Therapieverlauf wohnortnah behandelt werden können. In der Pilotphase nehmen zunächst elf regionale Kliniken in Oberbayern, Niederbayern und der Oberpfalz an dem Projekt teil. Die fliegenden Ärzte sind erfahrene interventionelle Neuroradiologen aus dem Klinikum Harlaching und dem Klinikum rechts der Isar in München, die zunächst an 26 Wochen im Jahr, sieben Tage die Woche, jeweils in der Zeit zwischen 8 Uhr und 22 Uhr zur Verfügung stehen. Geschätzt könnten zukünftig jährlich bis zu 200 Patienten im Netzwerk auf diese Weise behandelt werden.
Projektträger ist das Städtische Klinikum München, Kooperationspartner sind das Klinikum rechts der Isar der TU München, das Universitätsklinikum Regensburg und 11 regionale Kliniken des TEMPiS-Netzwerks.
Die Finanzierung des Projektes erfolgt vollständig durch die gesetzlichen und privaten Krankenkassen. Die wissenschaftliche Auswertung wird durch das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege (StMGP) gefördert.
Kooperationspartner für die Helikopterflüge sind die ADAC Luftrettung gGmbH sowie die HTM Helicopter Travel Munich GmbH. Die ADAC Luftrettung unterstützt solche zukunftsweisenden Projekte zur Weiterentwicklung der Luftrettung seit ihrer Gründung. So ist sie für die Forschung zur Verbesserung der Rettung aus Lebensgefahr und notfallmedizinischen Versorgung aus der Luft ein idealer Kooperationspartner.