Veröffentlicht am 19.06.2012 00:00

Schwabing · »Es war die Hölle«


Von red

Menschen schreien wie am Spieß, einige verlieren völlig die Nerven, Flaschen zerbrechen, überall Blaulichter, Polizisten schlagen mit Gummiknüppeln zu – und mittendrin in diesem bedrohlichen Chaos steht ein kleiner Junge, sieben Jahre alt, und er zittert, er hat panische Angst.

Schwabing 1962 - »Schwabinger Krawalle«

Schwabing · »Schwabinger Krawalle« Themenseite zu den Krawallen in Schwabing 1962

50 Jahre ist das jetzt her, Juni 1962, die Zeit der legendären » Schwabinger Krawalle «. Und der Junge von damals ist ein Zeitzeuge von heute: Herbert Hauke , der Betreiber des Münchner Rockmuseums im Olympiaturm. »Dieses Erlebnis steckt mir immer noch tief in den Knochen«, erzählt der 56-Jährige. »Seitdem steigt bei größeren Menschenansammlungen, etwa bei Demonstrationen, eine Urangst in mir auf.« Nein, sagt er, er erinnert sich nicht gern dran. »Ich dachte damals, die Welt sei ein behaglicher Ort – und dann stand ich plötzlich mitten in der Hölle«, so Hauke.

Unerwartet traf es im Grunde alle. Harmlos der Beginn: Fünf Jugendliche mit unverstärkten Gitarren, darunter Wolfram Kunkel, Sitka Wunderlich und Rüdiger Herzfeldt , sangen und musizierten am Monopteros, später an der Leopoldstraße. Es war nach einer langen Regenperiode der erste sonnige Tag, der 21. Juni 1962, Fronleichnam. Auch abends flanierten die Menschen gut gelaunt durch Schwabing, die Schüler machten immer noch Musik, viele blieben stehen und hörten zu. Doch es war bereits nach 22.30 Uhr, verärgerte Anwohner riefen wegen Ruhestörung die Polizei.

Als die anrückte und die Musiker vorläufig festnehmen wollte, waren die Umstehenden geschockt: Warum harmlose Jugendliche einfach mit aufs Revier nehmen? Sie stimmten erste Sprechchöre an »Vopo, Vopo« – ein Vergleich mit der DDR-Volkspolizei. Schnell baute sich Widerstand gegen die »Spielverderber« auf, es gab erste Rangeleien, die schließlich eskalierten: In der Nacht und an den folgenden vier Tagen kam es in der gesamten Umgebung zwischen Feilitzschstraße und Schellingstraße zu Straßenschlachten zwischen bis zu 40.000 vor allem jugendlichen Protestteilnehmern und zum Teil berittenen Polizisten.

Über das Radio erfuhren Herbert Hauke und sein Vater sehr bald, was in Schwabing los war. »Komm, wir holen deine Mutter da raus«, sagte der Vater. ­Denn die arbeitete damals im »Europa Espresso« an der Giselastraße, einer beliebten Begegnungsstätte im Viertel. Sie gingen also los, der Sohn an der Hand des Vaters. Der Sohn, der überhaupt nicht verstand, warum das alles passierte. Sie drängten sich durch Menschenmassen und Lärm und Gebrüll.

Attacke mit dem Knüppel

Auf der Terrasse des »Europa Espresso« dann der unerwartete Angriff: Ein berittener Polizist schlug Haukes Vater brutal mit einem Knüppel nieder, er traf genau auf eine Kriegsverletzung am Kopf, es floss Blut. Und die Mutter, die das Geschehen beobachtet hatte, stürzte herbei und riss den Polizisten vehement vom Pferd, auch andere packten mit an, es kam zum Gerangel. »Da stand ich und dachte, mein Vater stirbt jetzt und meine Mutter wird verprügelt«, erinnert sich Hauke. Wie gelähmt sei er damals gewesen. Und später, als seine Mutter ihn zu beruhigen versuchte, konnte er nicht mehr aufhören zu weinen. »In mir war etwas zerbrochen.« Der Vater kam nach drei Tagen aus dem Krankenhaus. Der Sohn war ein anderer als vorher. »Ich konnte das erst viele Jahre später aufarbeiten«, so Hauke. »Trotzdem, ich kriege heute noch die Wut. So dürfen Menschen einfach nicht miteinander umgehen.«

Längst weiß man, dass die Polizei mit der damaligen Eskalation erstens nicht rechnete. Widerstand gegen die Obrigkeit – daran war man nicht gewöhnt. Und zweitens fehlte zum Teil das nötige Know-how. »Die Polizisten waren teilweise völlig unerfahrene Polizeischüler, auch Beamte, die aus ihrem normalen Dienst heraus willkürlich zu Gruppen zusammengefasst und in den Einsatz geschickt wurden«, erklärt Gerhard Fürmetz, Historiker und Archivar im Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Vor Ort habe es an koordinierter Führung und an einer durchdachten Einsatztaktik gemangelt.

Polizisten waren wohl hilflos

Die Polizisten hätten kein anderes Mittel gewusst, als immer noch härter durchzugreifen. Man wollte die Ordnung wieder herstellen, koste es was es wolle. Denn auch das: In Zeiten des Kalten Krieges vermutetet man hinter jeder größeren Menschenansammlung einen potenziellen, von Moskau gesteuerten Umsturzversuch. Doch tatsächlich politisch motiviert kann man die »Schwabinger Krawalle« nicht nennen.

Im Kern ging es den Leuten darum, ihre bürgerlichen Freiheiten einzufordern. »Die Unruhen waren die Brücke zwischen dem Halbstarken-Radau der Fünfziger und der Studentenrevolte der 68er«, so Fürmetz.

Dass die Krawalle plötzlich abklangen, lag, so banal es klingt, vor allem am Wetter. Massive Regenfälle brachen über München herein. An den Bäumen klebten ironische Zettel: »Das Polizeisportfest fällt heute wegen schlechter Witterung aus.« In den nachfolgenden Prozessen kamen die Polizisten meist ziemlich glimpflich davon, während die Demonstranten zu wesentlich härteren Strafen verurteilt wurden.

Man zog auf jeden Fall seine Konsequenzen aus den Ereignissen. Unter anderem wurde eine Bürgerinitiative zur Wahrung der Bürgerrechte gegründet. Und unter dem Schlagwort »Münchner Linie« wurde die Stadtpolizei reformiert, vor allem um Eskalationen in Zukunft »sanfter« zu lösen. Diese neue Strategie gilt auch als eine der Ursachen, warum die 68er-Auseinandersetzungen in München weniger vehement verliefen als etwa in Berlin.

Wer noch mehr wissen will über die »Schwabinger Krawalle«, kann sich informieren bei einer Veranstaltung des Filmmuseums am Donnerstag, 21. Juni, um 19 Uhr in der »Open Scene«. Unter anderem werden Kurzfilme gezeigt, die das Lebensgefühl und das Ambiente Schwabings vor einem halben Jahrhundert mit seinen vielen Künstlern und Studenten vermitteln und ein weiterer Film, in dem selten zu sehendes Archivmaterial über die Krawalle vorgeführt wird.

Gespräch mit Zeitzeugen

In einer Gesprächsrunde, die von Gerhard Fürmetz vom Bayerischen Hauptstaatsarchiv moderiert wird, diskutieren Zeitzeugen. Reservierung ist unter der Telefonnummer 23 39 64 50 möglich. Der Eintritt kostet 5 Euro. Zum 50-jährigen Jubiläum findet außerdem auch eine Veranstaltung an der Münchner Freiheit statt, ebenfalls am 21. Juni, von 18.30 bis 22.20 Uhr. Mit Live-Auftritten: Drei der Original-Straßenmusiker spielen Lieder von damals. Außerdem Sparifankal 2 und Einstürzende Musikantenstadl.

Sylvie-Sophie Schindler

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