Noch bis 28. Februar 2019 ist die Studioausstellung »Verschleppt, geflohen, vertrieben. Russische Displaced Persons im Nachkriegsmünchen« zu sehen in der Tolstoi-Bibliothek, Thierschstraße 11. Die öffentliche, für jeden Interessierten zugängliche Präsenz- und Leihbibliothek wurde heuer vor 70 Jahren in München gegründet. Um diese besondere Münchner Bibliothek, mit mehr als 46.000 Werken die größte nichtstaatliche russischsprachige Bibliothek in Westeuropa, kennenzulernen, kann man dort die aktuelle Ausstellung besuchen. Sie beleuchtet ein bisher eher weniger bekanntes Kapitel im Nachkriegsmünchen.
Nach 1945 befanden sich 6,5 bis 7 Millionen Zivilpersonen in den westlichen Besatzungszonen, die infolge des Krieges heimatlos geworden waren. Der Großteil dieser Displaced Persons (DPs) waren Zwangsarbeiter, die in Deutschland unmenschliche Bedingungen erlitten hatten. Die Ausstellung gibt in der Studioausstellung "Verschleppt, geflohen, vertrieben. Russische Displaced Persons im Nachkriegsmünchen" erstmals Einblicke in die russische DP-Kultur mit ihrem Verlags- und Zeitschriftenwesen und behandelt das Thema der Integration der DPs in die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Veranschaulicht wird zudem die wichtige Rolle der Tolstoy Foundation als eine der Hilfsorganisationen im Zeitalter des Kalten Kriegs. Öffnungszeiten: Dienstag und Donnerstag, 13 bis 19 Uhr, Freitag, 13 bis 18.30 Uhr. Der Eintritt ist frei.
1947 begann die amerikanische Tolstoy-Foundation ihre Tätigkeit in Deutschland. In deren Umfeld gründete 1949 eine Gruppe von Flüchtlingen aus dem russischen Sprachgebiet in München eine russische Bibliothek. Seit 1972 befindet sich die Tolstoi-Bibliothek in der Thierschstraße 11. Neben dem belletristischen Bestand gibt es eine einmalige Sammlung an Emigrationsliteratur mit handsignierten Erstausgaben aus Europa, Asien und den USA. 1952 wurde die Bibliothek an das American Committee for Liberation übertragen und 1963 vom Tolstoi Hilfs- und Kulturwerk e.V. übernommen. Der Buchbestand der Bibliothek umfasst rund 47.000 Bände in russischer Sprache. Hierzu gehören zeitgenössische und klassische russischer Literatur sowie russische Übersetzungen der Weltliteratur, besonders deutscher Literatur. Zudem werden Enzyklopädien, Fachbücher aus Geschichte, Wissenschaft, Kunst und Religion, Kinderbücher und eine große Auswahl an Zeitungen angeboten. 200 russische Videofilme ergänzen das Angebot. Kernstück ist die berühmte Sammlung russischer Emigrationsliteratur mit bibliophilen Schätzen aus aller Welt. Hierzu gehören in Berlin und Paris verlegte Raritäten aus den 20er und 30er Jahren. Berühmt sind handsignierte Erstausgaben u.a. von Vladimir Nabokov (1899–1977), Autor der berühmten „Lolita“ (1955), und die Gesamtauflage des Tschechow-Verlags in den USA. Zum einmaligen Archiv zählen komplette Jahrgänge der Emigrantenzeitschriften, die Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen.
Sprache und Literatur spielen auch bei regelmäßigen Veranstaltungen eine Rolle: So findet jeden zweiten Dienstag des Monats der Literarclub für russischsprachige junge Menschen statt, wieder am 12. Februar, 18.30 bis 20.30 Uhr, "Stadt der Sonne" von Tove Jansson. Der Eintritt ist frei. Und jeden letzten Dienstag des Monats ist die zweisprachige Vorlese- und Spielreihe für Kinder "Spielend lesen!", das nächste Mal am 26. Februar, 16.30 bis 17.30 Uhr, Teilnahme 3 Euro. Hier lernen die Kinder einen selbständigen Umgang mit Büchern zu entwickeln. Es wird vorgelesen, gespielt und gebastelt. Und das alles auf Russisch und Deutsch. Infos bei Viktoria Schäfer, Telefon 089/226241 oder E-Mail schaefer@tolstoi.de
Außerdem finden immer wieder Vorträge zu russisch-deutscher Geschichte statt. Zum Jubiläum 100 Jahre Freistaat Bayern und die bewegte Zeit in München 1918/1919 geht es am Donnerstag, 28. Februar, um „Rote“ und „Weiße“ Russen in München, 1918-1923. Beginn ist um 19 Uhr, Eintritt 5 Euro. Referent ist Dr. Jürgen Zarusky vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. München war in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg Zielort von Emigranten, Emissären und Flüchtlingen aus Russland. Die dortige Revolution und der Bürgerkrieg hatten ein bayerisches Echo. Anhänger Lenins spielten dabei ebenso eine Rolle wie Gegenrevolutionäre, darunter eine Strömung mit großer Bedeutung für die Frühgeschichte der NSDAP. Wer waren die wichtigsten Personen dieser Kreise, wofür standen sie und worin bestand das "Russische", das sie mitbrachten?
Ihre Tätigkeit in Deutschland begann die amerikanische Tolstoi-Foundation 1947, gegründet 1939 von Alexandra Tolstaia, der jüngsten Tochter des russischen Schriftstellers Leo Tolstoi mit dem Ziel russischen Flüchtlingen aus Europa und der Sowjetunion zu helfen. Die Tolstoi-Foundation hatte nach Kriegsende in Deutschland rund 75.000 „diplaced persons“ russischer Herkunft registriert. Diese „heimatlosen Ausländer“ – Vertriebene, ehemalige Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter – galt es vor Zwangsrepatriierung in die Sowjetunion Stalins und der Verurteilung zu Straflager oder Tod zu schützen. Die überwiegende Zahl konnte mit Hilfe von Bürgschaften nach Übersee auswandern, den anderen gelang mit Hilfe des Tolstoi Hilfs- und Kulturwerks die Integration in Deutschland. 1979 wurde das so genannte Weiterwanderungsprogramm auf nichtrussische Flüchtlinge ausgedehnt und die gemeinsamen Büros des Tolstoi Hilfs- und Kulturwerks und der Tolstoi-Foundation berieten jährlich rund 1000 Flüchtlinge für die Auswanderung in die USA, nach Kanada und andere Aufnahmeländer. Von 1979 bis 1992 wanderten unter diesem Programm 6.876 Personen in diese Länder weiter. Nach Ende des US-Weiterwanderungsprogramms für Osteuropäer und dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 wurde die Erhaltung und Förderung der Tolstoi-Bibliothek zur Hauptaufgabe des Vereins. 1993 wurde zusätzlich eine russische Sozialberatung eingerichtet, um den Beratungsbedarf der vermehrt zuziehenden russischsprachigen Menschen abdecken zu können. Ziel der Beratungsstelle ist Hilfe zur Selbsthilfe russischsprachiger Menschen auf ihrem Weg zur Integration. Erreicht wird dies durch interkulturelle Kompetenz und einer niederschwelligen muttersprachlichen Beratung in allen sozialen Bereichen. Die Beratung ist unabhängig von Nationalität und Konfession. Ein breites Netzwerk unterstützt die Beratungsstelle bei ihren Aufgaben.