Die ältere Generation erinnert sich noch lebhaft und gerne an jene Zeit, als man in den Kartagen in mit schwarzen Tüchern in Dunkelheit gehüllte Kirchenräume trat, um dort vor den alljährlich am Gründonnerstag mit viel Mühe und Liebe im Presbyterium errichteten und am Karsamstag wieder abgebauten sogenannten Heiligen Gräbern betend des Erlösertodes Jesu zu gedenken. Ausgestattet mit einer Grabkammer, in der die Figur des am Kreuz gestorbenen Christus ruhte, und mit einer darüber angebrachten Monstranz, waren diese Gräber nämlich, von bunten Glaskugeln, Ampeln, Öllämpchen und Kerzen in ein magisches Licht getaucht und umgeben von einem Meer von Blumen, Jahr für Jahr aufs Neue dazu angetan, Jung und Alt in ihren Bann zu ziehen. Die Liturgiereform der 1950er und 60er Jahre bereitete diesen sinnenhaften Darstellungen der Passionsmystik dann allerdings ein allmähliches Ende. Nach und nach verschwanden die Heiligen Gräber aus den Gotteshäusern und gerieten in der Folge mehr und mehr in Vergessenheit.
Auch in Frauenneuharting wurde das Heilige Grab 1973 für lange Zeit das letzte Mal aufgestellt, ehe man es anschließend am Dachboden des Leichenhauses zur vermeintlichen letzten Ruhe bettete. Erst ein knappes Vierteljahrhundert später entsannen sich die Frauenneuhartinger ihres ausgedienten volksliturgischen Inventars und beschlossen daraufhin, die Heilig-Grab-Utensilien wieder einmal hervorzuholen, um anlässlich ihrer Millenniumsfeier 1997 an dieses lange geübte religiöse Brauchtum zu erinnern. 20 Jahre später war es einmal mehr soweit. Nicht zuletzt auch um das technische Wissen des Aufbaus der Kulissenarchitektur von der älteren auf die jüngere Generation weiterzugeben, kam die Dorfgemeinschaft überein, das Werk wieder einmal erstehen zu lassen.
Nach der Aufstellung des Jahres 2017 fassten die Frauenneuhartinger dann im Verbund mit dem örtlichen Heimatverein den Entschluss, angesichts der empfindlichen Schäden, die das barocke Kunstobjekt seinerzeit aufwies, dieses einer gründlichen konservatorischen Behandlung zuzuführen. Auf der Basis eines von dem Kunstsachverständigen Dr. Gerald Dobler, Wasserburg, erstellten Gutachtens ging man alsbald daran, das Heilige Grab, das der größte und einzig vollständig erhaltene Kultgegenstand seiner Art im Landkreis Ebersberg ist, unter Federführung des Restaurators und Kirchenmalers Fridolin Gruber, Katzenreuth, der angedachten Maßnahme zu unterziehen. Bei ihrem Vorhaben unterstützt wurden die Akteure einerseits durch Sachleistungen der Schreinereien Wieser, Frauenneuharting, und Grandl, Edling, des Gemischtwarenladens Fink, Tegernau, und der Gemeinde Frauenneuharting, andererseits durch Geldspenden aus der Bevölkerung sowie seitens des Landkreises Ebersberg, der Kreissparkasse München Starnberg Ebersberg und der Raiffeisen-Volksbank Ebersberg.
Nach erfolgreichem Abschluss des Unternehmens wird nun das in seinem Erhalt gesicherte Heilige Grab, das mit seiner durch die Künstler „I.B.“ und „P.G.“ 1855 vorgenommenen malerischen Neufassung ein Denkmal der religiösen Restauration der Mitte des 19. Jahrhunderts ist, zu Ostern 2019 wieder aufgestellt und der Öffentlichkeit präsentiert. Das bevorstehende Ereignis gibt nun an dieser Stelle Gelegenheit, in groben Zügen die Geschichte der gemeinhin als Ausdruck barocker Volksfrömmigkeit verstandenen, in ihren Wurzeln indes sehr viel weiter zurückreichenden Heiligen Gräber nachzuzeichnen.
Die Anfänge der heiligen Gräber sind im 12. Jahrhundert zu suchen. Damals ließen Kreuzritter und Pilger, die im Heiligen Land das Grab Christi in der Grabeskirche zu Jerusalem gesehen hatten, in ihrer Heimat feststehende Nachbildungen desselben erbauen. So entstand beispielsweise um 1160, wenige Jahre nach dem Ende des 2. Kreuzzuges also, in Eichstätt ein Heiliges Grab, das im Übrigen noch heute in der Kirche des dortigen Kapuzinerklosters zu besichtigen ist.
Sah die Zeit der Romanik bei ihren Kreuzesdarstellungen Christus als den Sieger über den Tod, so stellte die Passionsmystik der Zeit der Gotik den Menschen verstärkt den leidenden Heiland vor Augen und bereitete damit letztlich den Boden für eine neue Welle der Heilig-Grab-Verehrung. Entsprechend finden wir gegen Ende des Mittelalters in den Seitentrakten und -kapellen zahlreicher Dom- und Stiftskirchen als dauerhafte Einrichtungen verwirklichte Grabesdarstellungen. Genannt seien hier lediglich der Dom zu Freising, wo der Künstler hinter den Leichnam Jesu noch heute zu bewundernde Steingruppen trauernder Frauen und Jünger treten ließ, sowie die Stiftskirche zu Moosburg, wo im Jahre 1477 von einem „grozz grab unseres herrn“ die Rede ist. In der Zeit der Gotik fertigte man aber auch schreinartige Gräber, reich vergoldete und kunstvoll geschnitzte Tragschreine mit Gitterwerk, Türmchen, Kreuzblumen und Figuren. Hinter den Dom- und Stiftskirchen durften die weltlichen Höfe nicht lange zurückbleiben. Zug um Zug wurden so auch für die verschiedenen Hof- und Schlosskapellen Heilige Gräber beschafft.
Einen entscheidenden Impuls erhielt das Heilig-Grab-Wesen in der Zeit nach dem Konzil von Trient (1546-1563). Insbesondere die Jesuiten als die Hauptträger der Gegenreformation und der Erneuerung der katholischen Kirche gaben dem religiösen Brauchtum neue Anstöße. Sie pflegten das geistliche Schauspiel, veranstalteten Passionstheater und Karfreitagsprozessionen und errichteten nicht zuletzt eben auch aufwändig in Szene gesetzte Prachtgräber.
Es dauerte indes noch bis weit in die Barockzeit, ehe die Heilig-Grab-Verehrung in Bayern und Österreich zu voller Blüte gelangte. Im 17. Jahrhundert waren es vor allem die Pfarrkirchen der Städte und Märkte sowie die Wallfahrtsheiligtümer, die mit in den Kartagen auf- und wieder abbaubaren barocken Prunkgräbern ausgestattet wurden. In die Pfarr- und Filialkirchen auf dem Land fanden die Heiligen Gräber dagegen nur sehr langsam Eingang. Einem auf das Jahr 1695 datierten Kirchenrechnungsband des Gerichtes Schwaben, jenes Territoriums, aus dem später der Landkreis Ebersberg hervorgehen sollte, entnehmen wir beispielsweise, dass zum damaligen Zeitpunkt zwar bereits in den Pfarrkirchen des Gerichtsgebietes Heilige Gräber anzutreffen waren, in den Filialkirchen jedoch derartige Einrichtungen noch gänzlich fehlten. Erst im 18. Jahrhundert scheinen die Heilig-Grab-Darstellungen flächendeckende Verbreitung gefunden zu haben.
Waren es in der Zeit des Barock zunächst die Pfarreien der Städte und Märkte, die untereinander um eine möglichst prunkvolle Ausgestaltung ihrer Heiligen Gräber wetteiferten, so drang dieser Brauch doch allmählich auch in die ländlichen Seelsorgsgemeinden vor. Es muss bei diesem Konkurrieren um die aufwändigste und beeindruckendste Grabdarstellung teilweise zu starken Übertreibungen, ja massiven Auswüchsen gekommen sein. Unter dem Eindruck der Aufklärung sah man es jedenfalls als unumgänglich an, wenigstens die krassesten Ausuferungen einzudämmen. Der aufgeklärte Kaiser Joseph II. erließ 1784 für seine Lande gar ein generelles Verbot der Heiligen Gräber. Bereits ein Jahr zuvor hatte der Salzburger Fürsterzbischof Hieronymus Graf Colloredo ein Verbot der „Grabtheater“ ausgesprochen, sich dann aber angesichts des heftigen Widerstandes zu einer gewissen Abmilderung seiner Verfügung bereit gefunden.
In Bayern konnte sich der Brauch, in den Kartagen in den Kirchen Heilige Gräber zu errichten, nach einer Wiederbelebung unter König Ludwig I. bis in die Zeit der Reform der Osterliturgie halten, die heute weniger den toten Erlöser im Grab, als vielmehr den auferstandenen Christus am Ostermorgen in den Mittelpunkt gerückt sehen möchte.
Wenn nun in diesen Tagen in Frauenneuharting das alte Heilige Grab wieder einmal aufgerichtet wird, so steht dahinter keineswegs die Absicht, das Rad der Liturgiegeschichte zurückzudrehen. Vielmehr geht es den Initiatoren dieses Unternehmens darum, ein lange gepflogenes religiöses Brauchtum bei der Bevölkerung der Umgegend im Gedächtnis zu halten.
Zu besichtigen ist das kulturgeschichtlich und volkskundlich wertvolle Werk in der Pfarrkirche Frauenneuharting in der Zeit von Karfreitag bis Ostermontag (19.-22. April) jeweils von 8 bis 19 Uhr. Die Besucher sind dabei allerdings aufgerufen, die Andacht der dort Betenden nicht zu stören.
Berthold und Bernhard Schäfer