Das ganze Land im Lockdown, Besuchsverbot in Krankenhäusern und Pflegeheimen, geschlossene Schulen und Kitas, zigtausende Menschen in Kurzarbeit: Die Hochphase der Corona-Pandemie in Deutschland hat uns allen viel abverlangt. Ganz besonders den Pflegenden auf den Covid-19-Stationen und den schwer kranken Corona-Patienten - beatmet im künstlichen Koma liegend, abgeschnitten von ihren Angehörigen, die sie nicht besuchen durften.
„Am 20. April begannen wir auf der Covid-19-Intensivstation R3a ein Intensivtagebuch für unsere Patientinnen und Patienten zu führen“, sagt Marina Ufelmann, Fachkrankenschwester für Anästhesie- und Intensivpflege und Leiterin des Arbeitskreises „angehörigenfreundliche Intensivstation“ am Klinikum rechts der Isar in Haidhausen. Das Projekt steckte schon seit Monaten in der Vorbereitung. Dann ging es ganz schnell mit der Einführung.
Für alle 14 Patienten der Station wurde ein gestalteter Ringhefter als Tagebuch geführt – nach zwei Monaten waren es bereits rund 40 Tagebücher. „Jeden Tag kommt ein Eintrag entweder von Pflegenden, Ärzten oder Physiotherapeuten hinzu“, erklärt Marina Ufelmann. Das Schreiben dauert im Durchschnitt fünf Minuten. „Die Kollegen machen das oft nach Feierabend.“ Angehörige erhalten leere Blätter, die sie beschreiben können und in den Ringhefter einfügen.
Das Intensivtagebuch wird während der Zeit der Bewusstseinsstörung eines Patienten von Pflegenden und meist auch von Angehörigen geführt. Es beschreibt in täglichen Einträgen die medizinische Entwicklung des Patienten oder der Patientin, zum Beispiel, ob eine Therapie eingeführt oder beendet werden konnte. Ob er oder sie vielleicht schon auf dem Weg der Besserung ist oder sich der Zustand trotz intensiver Behandlung verschlechtert hat. Aber auch persönliche Eindrücke und Beobachtungen werden niedergeschrieben. Wie geht es dem Patienten heute? Hat er oder sie gelächelt oder gestöhnt – und darum ein Schmerzmittel erhalten? Wurde ein Händedruck erwidert? Es sind persönlich formulierte Nachrichten an den Patienten, die ihm oder ihr später helfen können, die Zeit auf der Intensivstation besser zu verstehen und zu verarbeiten. Ein Intensivtagebuch hat einen nachgewiesenen lindernden Einfluss auf die Entstehung von PTBS, Angst und Depression. Darum wird es auf allen Intensivstationen des Klinikums rechts der Isar eingeführt werden.
„Das Feedback von Familien von Verstorbenen ist sehr gut. Sie haben uns das Buch förmlich aus den Händen gerissen“, sagt Ufelmann. Bei überlebenden Covid-19-Patienten wartet sie noch auf Rückmeldung. „Der Patient sollte beim ersten Lesen nicht alleine sein. Er oder sie kann das Tagebuch auch einfach wegwerfen oder ganz hinten in einer Schublade vergraben“, meint Martina Ufelmann. Studien konnten jedoch zeigen, dass das Intensivtagebuch Flashbacks mindert und die Menschen die Zeit auf der Intensivstation besser verstehen und verarbeiten können.
„Als ich meinen ersten sterbenden Covid-19-Patienten hatte, war ich erstmals mit dem speziellen Ablauf konfrontiert. Der Verstorbene kommt sehr schnell in einen Leichensack und in die Pathologie. Wir Pflegenden sind die einzigen, die diesen Menschen verstorben sehen. Dann habe ich lange mit unserem Seelsorger Thomas Kammerer telefoniert. Gemeinsam mit der pflegerischen und ärztlichen Stationsleitung haben wir entschieden, ein letztes Foto zu machen“, erzählt Marina Ufelmann weiter.
Dazu muss man wissen: Das Besuchsverbot während der Hochphase der Corona-Pandemie ermöglichte nur Besuche bei sterbenden Patienten. Und nur von Angehörigen, die selbst nicht in Quarantäne waren. Aber die Angehörigen, die mit dem Covid-19-Patienten in einem Haushalt lebten, befanden sich häufig in Selbstisolation oder waren selbst erkrankt – sodass sie nicht kommen konnten oder durften.
„Dieses letzte Foto ist sehr hilfreich für Angehörige, die nicht selbst Abschied nehmen konnten. Die sich nie ein Bild machen konnten von der Situation im Krankenhaus, von den Ärzten und Pflegenden“, sagt Thomas Kammerer, Leiter der Klinikseelsorge am Klinikum rechts der Isar. „Wir Menschen leben von Bildern in unserem Kopf. Aber die Angehörigen hatten nichts. Die Bilder der Fantasie sind immer grausamer als die echten.“ Das letzte Foto ist ein würdiges Bild. Fürsorgend. Friedlich. Es zeigt: Dein geliebter Mensch war gut umsorgt und gepflegt in seinen letzten Tagen und Wochen. Wir waren da für diesen Menschen. Wir waren auch da, als er starb. „Das Foto wird immer dankbar angenommen“, sagt Kammerer. Für die Hinterbliebenen ist es eine persönliche Botschaft von Menschen, die sich um ihren Angehörigen gekümmert haben. „Dein Angehöriger war in guten Händen.“
„Die Menschen sterben bei uns nicht allein“, sagt Marina Ufelmann. "Auf der Intensivstation sind wir immer da.“ Wenn ein Patient verstorben ist, machen viele Kollegen ein Fenster auf, damit die Seele gehen kann. „Ein Kollege von mir geht immer raus, holt etwas aus der Natur und legt es zum Verstorbenen, damit dieser mit der Erde verbunden ist.“ Marina Ufelmann hat verstanden: Während einer Virus-Pandemie mit Besuchsverbot in Krankenhäusern braucht es zwei Bausteine, um zu begreifen, dass der geliebte Mensch nicht mehr da ist: ein Bild des Verstorbenen und den Krankheitsverlauf, niedergeschrieben in einem Intensivtagebuch. Das ist ein würdiger Abschluss. Und jede Mühe wert.