55 Jahre sind vergangen, seit palästinensische Terroristen am damaligen Flughafen Riem versuchten, ein Flugzeug der israelischen Airline El Al zu entführen - und der Fluggast Arie Katzenstein dabei ums Leben kam. 55 Jahre hat es aber auch gedauert, bis in München öffentlich und dauerhaft an den Anschlag erinnert wird. Zum Jahrestag am 10. Februar hat die Stadt den „Erinnerungsort München-Riem 1970” eingeweiht.
Drei goldene Uhren hängen an dem über acht Meter hohen Kunstwerk, das die international renommierte Künstlerin Alicja Kwade geschaffen hat. Die Zifferblätter sind der früher am Flughafentower angebrachten Uhr nachempfunden, die Uhrzeiten erinnern an drei kurz nacheinander erfolgte Detonationen. An jenem verhängnisvollen 10. Februar 1970 - einem Faschingsdienstag - wurde München zum Schauplatz des ersten terroristischen Angriffs auf deutschem Boden nach 1945.
Drei bewaffnete Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation AOLP attackieren kurz vor 13 Uhr im Transitbereich die Fluggäste einer Maschine der israelischen Airline El Al, die auf dem Weg von Tel Aviv nach London in München-Riem einen geplanten Zwischenstopp macht. Eine Flugzeugentführung scheitert auch an der mutigen Gegenwehr des Kapitäns Uriel Cohen. Der Fluggast Arie Katzenstein wirft sich auf eine Handgranate, um die Mitreisenden zu schützen. Als die Granate explodiert, kommt der 32-Jährige ums Leben. Kapitän Cohen und zehn weitere Menschen werden bei dem Angriff verletzt, zum Teil schwer. Auch eine Prominente ist darunter: Hanna Maron, eine bekannte israelische Schauspielerin, verliert ihren linken Fuß. Die Terroristen werden von Sicherheitskräften überwältigt und schließlich im September 1970 - ohne jede gerichtliche Verfolgung in Deutschland - in den arabischen Raum abgeschoben.
Die Tat von Arie Katzenstein kann man als heldenhaft bewerten. In seiner Familie hat sein Tod gleichwohl tiefe Wunden hinterlassen. Katzensteins ebenfalls 32 Jahre alte Frau Bilha blieb als Witwe zurück, mit ihr drei kleine Kinder, damals gerade fünf Jahre, zwei Jahre und drei Monate alt. Zur Einweihung des Denkmals, an dem ganz oben der Name ihres Vaters eingraviert ist, kamen Aries Kinder Miki, Ofer und Tami nach München - und zeigten sich sehr bewegt über die große Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Ihren Vater haben sie kaum gekannt, nach seinem Tod sei in der Familie über ihn wenig geredet worden.
Arie Katzenstein, geboren 1937 in Haifa, hatte eine besondere Verbindung zu München: Er studierte ab 1959 in der Isarmetropole, zunächst Tierheilkunde, später Hoch- und Tiefbauingenieurwesen. Die älteste Tochter Miki wurde in München geboren. Zuletzt lebte die kleine Familie in der Tengstraße. 1966 kehrten die Katzensteins nach Israel zurück. Im Februar 1970 wollte Arie Katzenstein aus geschäftlichlichen Gründen nach London reisen, kam aber nie dort an. Mit an Bord war sein Vater Heinz Katzenstein, der 1933 aus Deutschland nach Palästina geflohen war. Auch ihm rettete sein Sohn wohl das Leben.
Auf Anraten von Freunden waren Arie Katzensteins Kinder vor sechs Jahren an die Stadt München herangetreten, mit der Bitte, dem Anschlag von Riem künftig öffentlich zu gedenken. Erst seitdem nahmen die Verantwortlichen der Stadt diese „erinnerungskulturelle Lücke” wahr. Aus der Idee wurde in Zusammenarbeit der Familie Katzenstein mit Stadtarchiv und Kulturreferat ein großes Denkmal, das jedem Passanten in der Messestadt ins Auge fallen sollte. Davor hat die Stadt München eine Infotafel mit einem erläuternden Text zu dem Anschlag 1970 aufgestellt. Von der Tafel aus führt ein QR-Code zu einer digitalen Ausstellung mit einem Dokufilm, Interviews und Hintergrundberichten.
Der Erinnerungsort befindet sich in der Olof-Palme-Straße 9: genau dort, wo sich vor 55 Jahren der Anschlag ereignete, neben dem denkmalgeschützten Tower, der als eines der wenigen Bauwerke des Flughafens Riem erhalten geblieben ist. Heute befindet sich hier die Firmenzentrale der im Bereich Neurochirurgie tätigen Brainlab AG. Um den Erinnerungsort am Schauplatz des Geschehens schaffen zu können, ging die Stadt München mit Brainlab eine public-private partnership ein. „Es ist ein echtes Herzensprojekt”, meinte Stefan Vilsmeier, Gründer der Brainlab AG. Vilsmeier ist nur rund zehn Kilometer entfernt, in Poing, aufgewachsen, habe aber laut eigener Aussage lange nichts von dem Anschlag in Riem gewusst - und dürfte damit nicht der einzige sein.
„Beschämend” sei es, dass es 55 Jahre gedauert habe, bis es einen öffentlichen Erinnerungsort gibt, meinte Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter bei der Einweihung: „Dafür bitte ich um Entschuldigung.” Seinerzeit sei die Bedeutung des Anschlags von Riem völlig unterschätzt worden, ergänzte Reiter. Die Tat fand nicht isoliert statt, sondern war der Auftakt zu einer Reihe von gezielten Angriffen auf Jüdinnen und Juden in München, bis hin zum Olympia-Attentat im September 1972. Nur drei Tage nach Riem, am 13. Februar 1970, kamen bei einem Brandanschlag auf das Altenheim der Israelitischen Kultusgemeinde in der Reichenbachstraße sieben Menschen ums Leben, überwiegend Überlebende des Holocaust. Dass Antisemitismus in München jedoch kein historisches Phänomen ist, sondern nach wie vor aktuell, zeigt der Angriff auf das Generalkonsulat des Staates Israel im September 2024.