Das Vertrauen in die Politik hat gelitten. Von Politikverdrossenheit ist schon seit Langem die Rede, die tendenziell sinkenden Beteiligungen an den demokratischen Wahlen hierzulande scheinen das zu bestätigen. Werden wir am Sonntag bei der Landtagswahl einen neuen Tiefpunkt erleben?
Themenseite zur Landtagswahl 2018 in Bayern Stimmkreise und Kandidaten im Verteilgebiet der Wochenanzeiger München
Die Münchner Politikwissenschaftlerin Julia Renner erwartet das nicht und dafür nennt sie auch einen Grund: »Die Bürger sind nicht politikverdrossen.« Das zeige die politische Beteiligung der Menschen bei Bürgerbegehren und die Mobilisierung bei Kundgebungen und Protestmärschen, wie sie zuletzt wieder häufiger stattfinden.
Es sei sogar das Gegenteil von Politikverdrossenheit der Fall: Nichtwähler hätten oftmals durchaus eine politische Meinung und Interesse. Nicht zu wählen sei ein Ausdruck des Missfallens für die angebotenen Wahlmöglichkeiten und damit Ausdruck des politischen Willens, fern von Gleichgültigkeit.
Allerdings: »Ich halte es für keine gute Idee, nicht zu wählen«, erklärt die Politikwissenschaftlerin der Ludwig-Maximilians-Universität, an dessen Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaften sie aktuell an ihrer Dissertation arbeitet. Renner sieht das demokratische Stimmrecht als Chance zur Mitbestimmung, die man wahrnehmen sollte was im Übrigen auch wieder mehr Wahlberechtigte machen.
Ein Blick in die Statistik zeigt:
Die Beteiligung an bayerischen Landtagswahlen steigt seit dem Tiefpunkt im Jahr 2003 (57,1 Prozent) wieder an.
Aus gutem Grund, denn der Wert einer Wählerstimme sei unheimlich hoch, meint Renner. So hoch, dass das Recht zu wählen auch mit Verpflichtungen verbunden sei, zum Beispiel sich im Vorfeld einer Wahl über die Parteien, Kandidaten und Programme zu informieren. Nur so kann man eine Wahl treffen, die der eigenen Haltung weitestgehend entspricht.
Wobei klar sei: »Eine Wahl ist immer ein Kompromiss«, so Renner, eine Kombination von verschiedensten Programminhalten mit unterschiedlicher Gewichtung. In diesem Dickicht den am besten geeigneten Repräsentanten seiner ganz persönlichen politischen Haltung zu finden, ist alles andere als einfach.
Viele versuchen für sich Klarheit zu schaffen, indem sie die Thesen des Wahl-O-Maten ( www.wahl-o-mat.de ) der Bundeszentrale für politische Bildung bewerten.
Durch eine individuelle Gewichtung erhält man am Ende dieses Vorgangs eine Aussage zur größten Übereinstimmung mit dem Wahlprogramm einer Partei. Dem Ergebnis muss man nicht folgen, aber immerhin meint Julia Renner: »Der Wahl-O-Mat kann helfen, eine Entscheidung zu finden.«
Als Grundlage dafür dienen dem Wahl-O-Mat die Programme der Parteien. Und die sind weit mehr als Lippenbekenntnisse.
Es gebe wissenschaftliche Erhebungen, die nachwiesen, dass Wahlversprechen überwiegend umgesetzt würden. Das könne zwar nie das ganze Programm umfassen, denn Politik selbst sei wie die eigene Stimmenvergabe immer ein Kompromiss. Als Orientierung können Aussagen vor der Wahl durchaus dienen.
Das macht dem Wähler die Entscheidung dann vielleicht etwas einfacher. Bei der Erststimme sind sowieso viele schon festgelegt. Die kleinen Parteien haben sie kaum auf dem Schirm, denn das wäre ja eine vergebene Stimme?
Ein fataler Irrglaube. Denn im bayerischen Wahlrecht zählt die Erststimme nicht allein für die Ermittlung des direkt gewählten Abgeordneten wie das bei der Bundestagswahl der Fall ist , sondern fließt zusammen mit der Zweitstimme in die Ermittlung der Sitzverteilung im Parlament ein. Damit ist jede Erststimme für eine »kleine« Partei genauso wertvoll wie die Zweitstimme und daher nie »weggeworfen«. Das Problem: Die Besonderheiten des bayerischen Wahlrechts sind vielen Wählern nicht genau bekannt. »Davon profitieren vor allem die großen Parteien«, berichtet Julia Renner, weil sich eben viele Wähler scheuen, einer wahrscheinlich aussichtslosen Kandidatenbewerbung ihre Stimme zu geben.
Derartige strategische Überlegungen und die Auseinandersetzung mit einer Vielzahl an politischen Inhalten und Personen stellen durchaus eine Hürde dar, die so mancher nicht bereit ist, zu überwinden. So spiele tatsächlich der Bildungsabschluss eine Rolle, ebenso das Geschlecht und das Alter eines Wählers.
Menschen mit höherem Abschluss, Männer und Ältere wählten tendenziell eher. Die dabei unterrepräsentierten Gruppen zahlen einen hohen Preis: Sie schließen sich selbst von der Mitbestimmung aus, obwohl sie das Wahlrecht besitzen. Nicht zuletzt hat auch das Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments.
Ob man bereit ist, diesen Preis zu zahlen, muss jeder für sich selbst entscheiden. Auf den nächsten Seiten finden Sie Stellungnahmen von Menschen des öffentlichen Lebens, die zur Wahlteilnahme aufrufen und das auch begründen.
Von Carsten Clever-Rott