Seinen Ausbildungsvertrag hat er bereits unterschrieben: Im September beginnt Mohammad Sharaf seine Lehre als Feinmechaniker vielleicht. Denn seit 20 Monaten fehlt dem aus Syrien Geflüchteten die Anerkennung und damit die Aufenthaltserlaubnis.
Solange die nicht vorliegt, kann er keine Arbeit aufnehmen, keine Wohnung in der Nähe seiner Firma suchen und er kann jederzeit abgeschoben werden.
Dabei suchen Betriebe händeringend motivierte junge Leute wie ihn. 132.000 Fachkräfte fehlen in Bayern schon jetzt. Dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) scheint dies gleich zu sein. Sharafs Antrag ist einer von über 220.000 (Stand: 31. Mai), die dort »auf Halde« liegen. Selbst seine erfolgreiche Untätigkeitsklage vor dem Verwaltungsgericht hat das BAMF nicht bewegt.
Mit jungen Geflüchteten hoffen Betriebe, IHK und Handwerkskammer, den bereits eingesetzten Fachkräftemangel abfedern zu können. »Die möglichst schnelle Integration von Flüchtlingen ist eine gute Investition in Münchens Zukunft«, hat die Sozialreferentin der Stadt, Brigitte Meier, vor kurzem unterstrichen.
Arbeitsagentur-Chef Harald Neubauer sieht das nicht anders. Allein 2.600 unbegleitete junge Geflüchtete leben in München (das ist die Hälfte all derer, die in Bayern Zuflucht gefunden haben). »Diese Jugendlichen stellen ein großes Potential hochengagierter Menschen dar«, sagt Neubauer, »ich bin immer wieder begeistert, wie rasch es ihnen gelingt, so substantiell Deutsch zu lernen, dass sie in der Lage sind, eine Ausbildung zu absolvieren!«
Die große Zahl unbegleiteter Geflüchteter stellt München vor besondere Herausforderungen - z.B. seine Schulen, in denen die Jugendlichen Deutsch lernen. Die Arbeitsagentur hilft hier u.a. bei der Berufsorientierung. Alleine schon die wirtschaftliche Notwendigkeit spricht dafür, Geflüchtete in einem Netzwerk aufzufangen und ihre Integration zu beschleunigen. Neubauer nennt Zahlen: 11.500 Ausbildungsstellen waren 2014 allein für München bei der Arbeitsagentur gelistet - aber nur 6.500 Menschen wollten eine Ausbildung machen. Es fehlen also Kräfte.
»Das ist die Situation«, so Neubauer: »In fast jeder Branche gibt es unbesetzte Ausbildungsstellen. Wir haben im Einzelhandel, im Hotel- und Gaststättenbereich, im Handwerk große Schwierigkeiten, Ausbildungsstellen zu besetzen.« Junge Bewerber haben die freie Auswahl: »In München und dem Landkreis gibt es keine Ausbildungswünsche, die wir nicht erfüllen können.«
Der Agenturchef ist daher dankbar, dass im kommenden Jahr eine Hürde für Geflüchtete zumindest niedriger wird: Derzeit müssen Geduldete 60 Monate (das sind fünf Jahre) warten, ehe sie von der Arbeitsagentur gefördert werden können. »Das ist ein großes Hemmnis«, klagt Neubauer, »denn durch unsere ausbildungsbegleitenden Hilfen könnte man z.B. viele schulische Defizite auffangen.« Ab kommendem Jahr wird die Wartezeit, bis die Arbeitsagentur helfen darf, »nur« noch 15 Monate betragen.
Die Bereitschaft der Handwerksbetriebe, sich für junge Geflüchtete zu engagieren, ist hoch. Das bestätigt Lothar Semper (Handwerkskammer) und verweist auf eine kürzlich gemachte Umfrage unter den 10.000 Firmen in Oberbayern: Innerhalb weniger Tage haben diese 650 Praktikums- und 550 Ausbildungsplätze für Migranten gemeldet. Die Handwerkskammer hat daraufhin Betriebe und Flüchtlinge bei einer Ausbildungsmesse zusammengebracht: »Hochmotiviert, engagiert, mit besten Deutschkenntnisse und bestem Sozialverhalten« beschreibt Semper die Geflüchteten, »unsere Betriebe sind hellauf begeistert!«
Solche jungen Geflüchteten gibt es nicht nur im Handwerk. Zahra Farhang aus Afghanistan lebt seit fünf Jahren in Deutschland (inzwischen mit Niederlassungserlaubnis). Sie besuchte zunächst einen viermonatigen Deutschkurs, war dann an der SchlaU-Schule, machte den Quali und absolvierte wegen ihrer guten Kenntnisse verkürzt die Ausbildung zur Bürokauffrau. Heute arbeitet sie in diesem Beruf. »Ich bin dankbar für meinen tollen Job«, sagt sie.
Allerdings sehen sich viele Geflüchtete gezwungen, möglichst schnell Geld für ihren Unterhalt und ihre zurückgebliebenen Familien zu verdienen. Der rasche Zugang zu einem Job ist in ihrer Lage existentiell, nicht die Ausbildung. Für die Handwerkskammer eine ungute Situation: »Wir müssen für die Ausbildung werben«, so Semper, »denn sie ist die beste Voraussetzung für die Integration bei uns in Deutschland.«
Semper nennt sieben Forderungen an die Politik, darunter:
- Beschleunigung der Asylverfahren
- Ermessensspielräume im Bleiberecht müssen zugunsten der Geflüchteten genutzt werden;
- einheitliche Verwaltungspraxis bezüglich der Migranten (aktuell sind die Regeln von Kreis zu Kreis verschieden);
- Unterstützung der Betriebe und Azubis während der Ausbildung. »Viele junge Leute sind traumatisiert und haben andere kulturelle Hintergründe«, erklärt Semper, »da sind die Betriebe allein überfordert, wir brauchen Ansprechpartner!«
- »3 plus 2«, also gesicherter Aufenthalt von Geflüchteten während der gesamten Ausbildung (3 Jahre) und anschließender Anstellung (2 Jahre).
»Unsere Betriebe haben keine Volljuristen, die kennen sich mit Duldung mit und ohne Beschäftigunsgerlaubnis und anderen Spezialfällen nicht aus«, so Semper, »sie wollen Sicherheit - sonst investieren sie umsonst in die Ausbildung!«
»Wir brauchen Rechts- und Planungssicherheit mit 3 plus 2«, unterstreicht auch Hubert Schöffmann für die IHK. Ein Betrieb muss sich auf das konzentrieren können, was er kann: Fertigkeiten vermitteln, ausbilden. »Man tut sich auf politischer Seite schwer, Rechtssicherheit zu schaffen«, bedauert er. Es könne nur ein Zwischenschritt sein, dass Flüchtlinge eine Duldung für ein Jahr bekommen, wenn sie einen Ausbildungsplatz gefunden haben. »Warum bekommt ein Migrant, wenn er seinen Ausbildungsvertrag unterschreibt, nicht gleich die Duldung für die gesamte dreijährige Ausbildungszeit?«, fragt Schöffmann. »Da ist noch ein dickes Brett zu bohren.«
Die Stadt München sei hingegen ein positives Beispiel für das Nutzen von Ermessensspielräumen.
Zuwanderer haben für die IHK ein wertvolles Potential. »Dafür müssen wir Perspektiven schaffen«, mahnt Schöffmann, »es kommen hochqualifizierte und befähigte Menschen zu uns.« Damit Zuwanderer den Betrieben ihre im Heimatland erworbenen Fähigkeiten nachweisen können, berät die IHK bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse kostenlos. »Wir brauchen langfristige Perspektiven«, pflichtet Josef Schmid bei, »und wir müssen alle Spielräume ausnutzen!«
Angesichts des eklatanten Mangels an qualifizierten Kräften in München könne man aus dem Zuzug von Geflüchteten eine »echte Win-win-Situation« für alle machen: Die Migranten finden Sicherheit, die Münchner die für ihren Wohlstand fehlenden Kräfte. »Es ist wichtig, dass wir als Gesellschaft und Wirtschaft die Chance sehen, die wir in diesen zu uns kommenden Menschen finden«, meint Schmid, »ich betone das sehr deutlich, weil es früher andere Sichtweisen gab.«
Der Fachkräftemangel sei ein Wachstumshemmnis für München. Die Stadt könnte ohne dieses Hemmnis noch mehr Wohlstand generieren. Schmid steht daher hinter der schnellen Umsetzung von Projekten wie »pass(t)genau«, die der Stadtrat auf Initiative der Handwerkskammer beschlossen hat, um die Berufsausbildung junger Geflüchtete zu unterstützen. »Das müssen wir als Stadt in Zusammenarbeit mit den Kammern und Verbänden unterstützen!« Zunächst sollen 25 Ausbildungsplätze geschaffen werden begleitet durch Beratung für Ausbilder sowie für Auszubildende. Ein Aufstocken auf 100 Ausbildungsplätze sei möglich, so Schmid. Arbeit sei eine entscheidende Integrationsvoraussetzung, denn junge Geflüchtete lernen dabei deutsche Kollegen kennen und können so besser in der neuen Umgebung Fuß fassen.
Auch der Bürgermeister würdigt die jungen Geflüchteten: »Zu sehen, wie motiviert und wie schnell sie Schulisches aufgeholt haben nach teils schlimmen Schicksalen hat mir großen Respekt abgerungen!« Dieselben Erfahrungen machen Lehrer mit den Schülern in ihren Übergangsklassen (in diese Klassen werden Flüchtlingskinder aufgefangen, die schulpflichtig sind): »Die Kinder lernen schnell, sie sind sehr willig«, sagt MLLV-Vorsitzende Waltraud Lucic.
Allerdings brauche man dringend mehr Lehrer (zwei in jeder Ü-Klasse), Psychologen und Schulsozialarbeit. In Ü-Klassen werden 20 Kinder mit unterschiedlicher Herkunft, Werten, Alter und Leistungsstand unterrichtet für die Lehrer eine »wahnsinnige Herausforderung«.
Für jeden Lehrer müsse zudem Deutsch als Zweitsprache verpflichtend in der Ausbildung werden. »Es geht nicht anders«, so Lucic. Interkulturelle Kompetenz benötigen nicht nur Flüchtlinge, sondern auch die Menschen hier. Lehrer sollten auf die Situation ihrer Schüler ohne Zeitdruck eingehen können. Das sei Grundlage einer Willkommenskultur, die vieles leichter machen würde. Geflüchtete müssen hier ihre Heimat finden können. Lucic gibt zu bedenken: »Diese Kinder werden bei uns bleiben: Sie sind unsere künftige Gesellschaft, sie sind die, die uns eines Tages im Rollstuhl schieben werden.«
Michael Stenger (SchlaU-Schule) benennt Mängel: In Deutschland gebe es lediglich sieben Unis, die Deutsch als Fremdsprache anbieten. »Wir müssen neue Wege gehen«, mahnt er. Mit einem ersten Schritt beginnt München: Die Uni hier ist die erste in Deutschland, die in der Lehrerausbildung »Deutsch als Zweitsprache« als Hauptfach anbietet.
Stenger macht sich für die Unterstützung und Fortbildung von Lehrkräften (nicht erst in der Berufs-, sondern schon in Mittel- und Grundschulen) stark: »Diese Lehrer haben ganz schön zu beißen«, sagt er z.B., wenn sie den Lernfortschritt ihrer Schüler sehen und diese dennoch ständig vor der Abschiebung stehen. Er sei Kultusminister Spaenle daher dankbar, dass die sozialpädagogische Begleitung in den Schulen umgesetzt wurde.
»Wir brauchen Zuwanderung« das ist auch für Norbert Huber (Wohlfahrtsverbände) unstrittig. »Wollen wir unseren Wohlstand halten, geht es nicht ohne Zuwanderung.« Die Rahmenbedingungen müsse man jedoch optimal gestalten. Das sind sie derzeit mitnichten: »Wir haben ein zerfleddertes Rechtssystem«, meint Huber, das Aufenthaltsrecht werde zum Teil alle zwei bis drei Monate modifiziert. »Das beschäftigt unsere Berater heftigst!«
Neben den permanenten Neuregelungen sieht er die zu niedrige Zahl der Berater als großes Problem. Ein Betreuungsschlüssel von 1:150 in den Unterkünften bedeute, dass es keine Ressourcen für Urlaubs- und Krankheitszeiten gibt. Wenn in einer Unterkunft mit 500 Flüchtlingen nur drei Berater verfügbar sind, um deren persönliche Situation von Aufenthaltsstatus über Kita bis Beschäftigung zu klären, könne der Start nicht funktionieren. Gerade der sei für Migranten aber entscheidend: »Wenn wir schon am Anfang viele Probleme haben, löst das weitere Folgeprobleme aus«, warnt Huber. Daher müsse man gerade am Anfang investieren. Viele Migranten seien bestens gebildet und könnten in Ausbildung und Beruf einsteigen. »Aber die Zugänge müssen optimiert werden!« so Huber.
Auf diesen Zugang wartet Mohammad Sharaf seit 20 Monaten. »Kein Mensch verlässt sein Land und die Menschen, die er liebt, aus unwichtigen Gründen, sondern um sein Leben zu retten«, erzählt der Syrer, »er kommt mit großer Hoffnung nach Deutschland.« Sharaf konnte hier einen Deutsch-Intensivkurs besuchen, absolvierte ein berufsvorbereitendes Jahr auf einer staatlichen Berufsschule und fand Unterstützung in einem Helferkreis Ehrenamtlicher. »Daraus ist mir nicht nur eine neue Familie erwachsen«, sagt er, »sondern auch ein Praktikum und mein Ausbildungsvertrag.« Nach wie vor ist er nicht als Geflüchteter anerkannt. »Das behindert meine Zukunft ganz konkret.«
»Die Menschen brauchen Sicherheit«, schaltet sich Josef Schmid ein. »Es gibt eine massive Unzufriedenheit damit, dass das BAMF mit den Anträgen nicht hinterherkommt.«
Seit sechs Jahren greifen der Verein heimaten e.V. und sein Jugendverband, die heimaten-Jugend, Mitglied des Kreisjugendrings, Menschen wie Sharaf unter die Arme. Vorstand Marianne Seiler freut sich, dass sich die Situation in dieser Zeit spürbar verbessert hat auch dank der Zuwanderer, die selbst aktiv sind, Brücken bauen und ihre Erfahrungen an andere Geflüchtete weitergeben.
Weil das Rechtssystem uneinheitlich und die Vielzahl an Hilfsangeboten unübersichtlich ist, brauchen Geflüchtete ein Netzwerk von Einrichtungen, die zusammenarbeiten.
Ein Defizit sieht Marianne Seiler an den Schulen: Die Sprachvermittlung hier sei zwar gut, aber zu wenig. In Bayern gibt es nur für etwas 25 % der 16- bis 21-Jährigen Plätze in neugeschaffenen Berufsschulklassen.
In der »Allianz der Verantwortung« vermisst Michael Stenger die Innenpolitik. »Die Wirtschaft darf sich von der Jahresduldung für Auszubildende nicht blenden lassen«, meint Michael Stenger, »sie bringt keine Rechtssicherheit, sondern ist ein Risikofaktor.« Duldung und Rechtssicherheit sei ein nicht aufzulösender Widerspruch. »Nur die Duldung zu haben, ist sehr schwer«, erzählt Zahra Farhang, »Sie können sich mit diesem Status nicht auf das Lernen und auf Integration konzentrieren.« Das BAMF müsse sein Personal aufstocken, um Verfahren abschließen zu können, fordert Stenger. »Doch die Mär von der Beschleunigung der Verfahren höre ich seit 28 Jahren«, zeigt er sich wenig zuversichtlich.
Der Zuzug von Geflüchteten sei im Moment zwar eine hohe Herausforderung (viele Verbände seien am Rand ihrer Möglichkeiten angekommen), aber nicht vergleichbar mit dem, was andere Staaten z.B. mit Binnenflüchtlingen zu bewältigen haben. »Unser Land muss und kann - vorausgehen«, so Stenger. »Dieser menschlichen und wirtschaftlichen Win-win-Situation sollten wir uns nicht länger verstellen!«
Von Johannes Beetz
Die Gäste:
Josef Schmid (Zweiter Bürgermeister und Leiter des Wirtschaftsreferats der Stadt München)
Harald Neubauer (Vorsitzender der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit, München)
Lothar Semper (Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer München und Oberbayern)
Norbert Huber (Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Wohlfahrtspflege in München)
Hubert Schöffmann (bildungspolitischer Sprecher der bayerischen Industrie- und Handelskammern IHK)
Waltraud Lucic (Vorsitzende des Münchner Lehrerinnen- und Lehrerverbandes, MLLV)
Zahra Farhang (Geflüchtete aus Afghanistan, ehem. SchlaU-Schülerin, Bürokauffrau)
Michael Stenger (Gründer der SchlaU-Schule)
Mohammad Sharaf (Geflüchtet aus Syrien, im Asylverfahren)
Marianne Seiler (Vorstand heimaten e.V. im KJR)