Veröffentlicht am 11.07.2022 16:14

„Viel war unbekannt”


Von Susanne Hauck [ha] (susanne.hauck.icking@gmx.de, sha)
Sie arbeiten die NS-Vergangenheit Bergs auf: Ingo Kleiter (von rechts), Heinz Rothenfußer, Gabi Graswald, Harald Schwab und Rupert Steigenberger. (Foto: Susanne Hauck)
Sie arbeiten die NS-Vergangenheit Bergs auf: Ingo Kleiter (von rechts), Heinz Rothenfußer, Gabi Graswald, Harald Schwab und Rupert Steigenberger. (Foto: Susanne Hauck)
Sie arbeiten die NS-Vergangenheit Bergs auf: Ingo Kleiter (von rechts), Heinz Rothenfußer, Gabi Graswald, Harald Schwab und Rupert Steigenberger. (Foto: Susanne Hauck)
Sie arbeiten die NS-Vergangenheit Bergs auf: Ingo Kleiter (von rechts), Heinz Rothenfußer, Gabi Graswald, Harald Schwab und Rupert Steigenberger. (Foto: Susanne Hauck)
Sie arbeiten die NS-Vergangenheit Bergs auf: Ingo Kleiter (von rechts), Heinz Rothenfußer, Gabi Graswald, Harald Schwab und Rupert Steigenberger. (Foto: Susanne Hauck)

„Es tut weh, sich damit zu befassen, aber es ist wichtig, sich damit auseinanderzusetzen“, eröffnete Bürgermeister Rupert Steigenberger den Vortrag zur Geschichte Bergs im Dritten Reich. „Und vieles ist bislang noch nicht bekannt gewesen.“ Heinz Rothenfußer ist seit fünf Jahren ehrenamtlicher Archivar der Gemeinde. Er hat einige unerforschte dunkle Kapitel zu Tage gefördert – und bei seinen Recherchen die volle Unterstützung der Gemeinde und der Marianne-Strauß-Klinik in Kempfenhausen erfahren. Auch das bemerkenswert und keinesfalls der Normalfall, wie man von anderen Fällen weiß. Seine Erkenntnisse hat er zusammen mit Co-Referentin Gabi Graswald mit den Zuhörern im vollbesetzten Rittersaal in Schloss Kempfenhausen geteilt. So wurde Berg ein frühes Nazi-Nest, als die Baronin Sibylle von Drufell hierherzog. Ihr Ziehsohn Karl Sudholt war Ortsgruppenleiter, dessen Nachkommen betrieben bis 1990 einen rechtsextremistischen Verlag in Berg, der heute am Ammersee zu finden ist.

Schlimme Geschichten

Rothenfußer hat aufgrund von Unterlagen und mit Hilfe von Zeitzeugen herausgefunden, dass es in Berg viele Zwangsarbeiter gab. Einige arbeiteten im Sägewerk Manthal, andere auf den Bauernhöfen oder montierten in der Berger Kiesgrube Flugmotoren für BMW. In den Lagerbaracken am Milchberg führten sie hinter Eisengittern ein elendes Leben. „Es gibt einige schlimme Geschichten“, sagte Rothenfußer sichtlich erschüttert. So hat sich ein französischer Kriegsgefangener aus Verzweiflung in einem Weiher ertränkt. Ein ukrainischer Zwangsarbeiter hatte sich in eine verheiratete Bachhauser Bäuerin verliebt, aus der verbotenen Beziehung entstammte ein Kind. Ein Nachbar denunzierte die beiden, daraufhin holte die Gestapo den Unglücklichen ab, der nicht mehr wiederkehrte. Auch Fälle von Euthanasie gab es im Gemeindegebiet. Rothenfußer las aus Briefen der Künstlerin Eva Krzyzanowski, die man nach Haar einliefern und dort elend verhungern ließ. Die vielleicht dunkelsten Geheimnisse bergen die Gebäude auf dem Gelände der heutigen Marianne-Strauß-Klinik. Dort sollte im Dritten Reich erst eine „Lebensborn“-Einrichtung für die Geburt von arischem Nachwuchs entstehen, später eine biologische „Versuchs- und Musteranstalt“.

Aktion Brandt

Bahnbrechend ist der Nachweis des Archivars über die Aktion Brandt in der Klinik ab Herbst 1944. Dabei handelte es sich um das unter der Hand und daher unauffälligere weitergeführte Euthanasie-Programm der Nazis. Mit einem Unterschied: Opfer waren nun Alte und Invalide, weil wegen des Kriegs die Krankenhausbetten in Ballungsräumen dringend gebraucht wurden. „Es konnte jetzt jeden Kranken treffen“, erklärte Rothenfußer. Die Mordwerkzeuge waren Spritzen, Luminal-Schlaftabletten und Hungerkost. Ob es aber tatsächlich absichtsvolle Tötungen in Kempfenhausen gegeben hat, ist nicht sicher, auch das stellte der Archivar unmissverständlich klar. Denn anhand der Patientenakten, soweit diese überhaupt noch vorhanden sind, lässt sich dies nicht belegen. „Wir wissen nicht, ob nachgeholfen wurde“, erklärte Rothenfußer.

Schicksal der Essener

Allemal auffällig ist jedenfalls eine Entdeckung des Archivars in den Sterberegistern der Gemeinde. „Ende 1944 schnellten die Todeszahlen in die Höhe“, berichtete Rothenfußer. So waren im Herbst 1944 100 alte Leute aus dem Raum Essen in die Klinik verlegt worden. Innerhalb weniger Monate starb fast die Hälfte von ihnen. Sie waren ordentlich auf dem Friedhof in Aufkirchen bestattet. Ihre Gräber sind heute aber aufgelassen. Auch die Marianne-Strauß-Klinik, die sich heute (seit 1988) nach der Nachkriegsnutzung als Tuberkulose-Krankenhaus und als Klinik für Innere Medizin der Stadt München auf dem Gelände befindet, will die Klinikgeschichte mit Hilfe eines Medizinhistorikers weiter aufarbeiten, wie Professor Ingo Kleiter versprach.

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