Keine Fotos und keine Namensnennung: Das sind die Vorbedingungen des Werbe-Spiegel-Interviews mit den Eltern und der jungen Frau, die als Dreizehnjährige in Aubing Opfer des sexuellen Missbrauchs durch den indischen Kaplan Shaju wurde (siehe Artikel „Nüchtern betrachtet“) – kein Wunder, haben sich Offenlegung und Anzeige des Missbrauchs vor fast fünf Jahren doch nachhaltig negativ für die Familie ausgewirkt! Über den Gesprächswunsch dagegen freuen sich alle Drei: „Keiner redet mit uns! Damals nicht und heute auch nicht. Dabei würden wir uns wünschen, dass mit uns geredet wird statt über uns!“, betont die Mutter.
Schnell habe sie erfahren müssen, dass man „einen Pfarrer nicht ungestraft anzeigen kann“. Immer wieder musste sie sich Vorhaltungen gefallen lassen, dass das alles nicht sein könne, der Kaplan sei immer so nett und engagiert gewesen. Schuldzuweisungen machten ihr zudem zu schaffen: Eltern müssten das doch merken, wenn das eigene Kind missbraucht werde. Dabei war die gesamte sechsköpfige Familie vor der Anzeige in der Pfarrgemeinde St. Quirin „daheim“: Beide Eltern waren zu Zeiten des langjährigen Pfarrers Alois Brem äußerst engagiert, die Mutter war zuerst Pfarrgemeinderätin, dann in der Nachbarschaftshilfe tätig, der Vater bekleidete ein Amt in der Kirchenverwaltung, in das er mit der höchsten Stimmenzahl hineingewählt worden war.
„Im Sommer vor der darauffolgenden Wahl haben wir die Anzeige gemacht. Im Herbst war noch eine Pfarrgemeinderatstagung, bei der mir von den Patres schon signalisiert wurde, ich solle mich nicht mehr aufstellen lassen. Ich könne doch sechs Jahre Pause machen“, erinnert sich der Vater. „Kandidiert habe ich trotzdem, das hätte sonst wie ein Schuldeingeständnis ausgesehen. Bei der Wahl gab es dann eine merkwürdige Häufung von Briefwahl-Stimmen und schon war ich nicht mehr wiedergewählt.“ Heute hat sich die gesamte Familie aus der Pfarrgemeinde zurückgezogen: „Wir gehen da nicht mehr hin!“, sagt die Mutter sehr bestimmt.
Die Tochter, etliche Jahre Ministrantin und Mitspielerin in der Kleinkinderkirchen-Musik, erzählt, dass sie mit 13 noch kindlich war, verträumt, vertrauensvoll; sie erzählt, wie sie erstmals einen Zettel vom Kaplan erhielt, der mit „Ich liebe dich“ unterschrieben war, nicht wusste, warum das da stand und ihre ältere Schwester fragte. Die ärgert sich noch heute, dass sie das nicht ernst genommen hat, nur sagte, das meine „Der“ doch gar nicht so, das dürfe er gar nicht. Als es schließlich zu den sexuellen Übergriffen gekommen sei, habe sie sich immer mehr verschlossen, erinnert sich die heute 21-Jährige. Warum sie nicht gleich zu den Eltern gegangen ist, kann sie sich selbst nicht erklären: „Ich hatte immer den Wunsch, es meinen Eltern zu erzählen.“ Der Kaplan habe jedoch immer gesagt, sie dürfe niemandem etwas erzählen; auch habe er habe sie und ihre Firmpatin äußerst geschickt gegeneinander ausgespielt.
Die Tochter sei schließlich „weggelaufen“, nicht mehr in die Pfarrei gegangen, berichtet die Mutter, doch der Kaplan habe sie mit Anrufen und E-Mails bombadiert, sei sogar bei ihnen vor der Tür gestanden. Letztendlich wurde ihm dies aber auch zum Verhängnis. Nachdem sich das Mädchen mit 16 Jahren einer Psychologin anvertraut hatte, konnte sie plötzlich über alles reden. Den geschockten Eltern war sofort klar, dass sie den Missbrauch an ihrer Tochter nicht unter den Teppich kehren wollten. Als erstes habe man sich ans Ordinariat gewandt, dort sei die Beratung sehr professional, sehr einfühlsam gewesen, lobt der Vater.
Schon bei diesem Gespräch war ein Rechtsanwalt in beratender Funktion dabei. „In Einzelgesprächen wurde ich dann von Mitarbeiterinnen der Münchner Insel auf meine Glaubwürdigkeit geprüft“, erzählt die junge Frau. Als dann herauskam, dass sie über Jahre hinweg Tagebuch geführt und hier auch etliche ausgedruckte E-Mails des Kaplans eingeklebt hatte, war dieser schnell überführt und geständig.
Auf die Frage, ob sie Genugtuung empfunden haben, nachdem in der vergangenen Woche die Missbrauchsverdachtsfälle in Fürstenfeldbruck bekannt geworden waren, fallen die Antworten unterschiedlich aus – Genugtuung empfinden alle Drei nicht. „Es macht mich krank, dass der Mann immer weiter Kinder schädigen wird“, so die Mutter. „Damals war ich froh, dass das Ganze ohne großen Rummel abgelaufen ist. Im Nachhinein meine ich aber, dass es falsch war, nicht alles offenzulegen“, sagt der Vater, der jetzt keine Namensnennung mehr will, weil er die Unterstellung befürchtet, in der momentanen Situation nur „aus Sensationslust“ an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Tochter, inzwischen Studentin, betont, dass sie sich immer noch wünsche, dass sich zumindest eines der Mädchen, von dem sie wisse, dass es auch missbraucht worden sei, offenbart hätte, „dann hätte es doch eine Chance gegeben, den Täter ins Gefängnis zu bringen – denn ich war kein Einzelfall.“