Veröffentlicht am 02.02.2012 00:00

München · 90 heilige Minuten: Fußball in England


Von red

Das Flutlicht erlischt. Der Motor springt an. Das Stadion verschwindet hinter mir in der Dunkelheit. Ein Mini-Bus mit 15 jungen Fans macht sich, vollbeladen mit einem Koffer voller Erlebnissen, auf den Weg nach Hause von Blackburn nach Lancaster.

Goodbye Germany, England we’re coming

Philipp auf der Insel - Kolumne: Austauschschüler Philipp berichtet drei Monate lang über seine Erlebnisse und den Unterschieden bzw. Gemeinsamkeiten von Deutschen und Engländern

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Die einen diskutieren über das gerade zu Ende gegangene erstklassige Spiel. Die anderen beginnen erneut, das gesamte Repertoire an Fußball-Chorälen von vorne bis hinten zu grölen. Und wieder andere folgen durch die beschlagene Fensterscheibe den kleiner werdenden Lichtern der Stadt. Und ich bin mittendrin, statt nur dabei. Viele Bilder schießen mir durch den Kopf – von neu kennengelernten Freunden bis zum parierten Elfmeter. Eines ist mir aber klar und steht fest: In den letzten sieben Stunden habe ich „den“ englischen Fußball kennengelernt, der von den Fans mit tiefer Überzeugung gelebt und von den Gegnern inständig gefürchtet wird.

Mittwoch, nach der letzten Stunde, Treffen im „Sports Block“. Das ist das Einzige, an das ich mich erinnere, als ich vorgestern Hals über Kopf zufällig den allerletzten Platz für den Ausflug zu dem Premier-League-Spiel Blackburn Rovers gegen Newcastle United ergattert habe, wofür man auf eigene Faust nur sehr schwer ein Ticket auftreiben könnte. Strahlend vor Freude auf das Topspiel und mein Debüt in der englischen Königsklasse kann ich das Ende des Unterrichts kaum erwarten. Wir sind vollzählig, der Gurt sitzt, los geht’s. Der Mini-Bus der Heysham High School setzt sich in Bewegung; nächster Halt Ewood Park – die Heimat der legendären Blackburn Rovers. Wir selbst könnten die Gegner der Rovers sein: Drei Trainer (unsere fußballambitionierten Sportlehrer), elf Spieler und drei in Reserve.

Wir könnten nicht nur ein Team sein, sondern wir sind es heute leibhaftig: Heute steht zwar ausnahmsweise nicht ein Erstligist als Herausforderer auf dem Programm, aber umso mehr ein auspowerndes zweistündiges Exklusiv-Training in dem „Indoor-Football-Field“ der Arena mit keinem anderen als dem Co-Trainer Gary Browyer der Rovers. Wir quetschen uns gerade mit dem Mini-Bus durch ein sehr dichtes Wohngebiet, als Sprechchöre immer lauter werden. Wir biegen einmal scharf rechts ab und direkt vor uns eröffnet sich das massive Stadion. Obwohl das Spiel erst in fast vier Stunden beginnen wird, pilgert jetzt schon ein beachtlicher Strom von selbstbewussten Newcastle Fans singend auf den Ewood Park zu. Das stundenlange, stimmungsvolle, „musikalische“ Einstimmen auf das kommende Match ist nämlich hier auf der Insel gleichbedeutend mit dem Duell an sich.

Mit dem Dolby-Surround-Background der Fans im Hintergrund beginnt nun unsere Trainingseinheit mit Gary, der weiß, auf was es wirklich ankommt, und sich nicht lumpen lässt: Viel Ausdauer. Viel Schweiß. Viel WIR. Das dreiviertelstündige Endspiel zwischen aus unserem Bus gebildeten Gruppen A und B ist das Highlight des Trainings. Unsere Lehrer, einige andere Trainer des Clubs und nicht zu wenig verirrte Fans sind euphorisch und anfeuernd an der Seitenlinie dabei, wie wir dem anderen keinen Ball schenken, sondern alles geben – selbst die sonst eher Ruhigen werden mitgerissen. Das Ergebnis von 14:13 gibt dem Sports College aus Heysham alle Ehre. Fußballschuhe und Trikot werden gegen Winterkleidung getauscht, denn jetzt sind die Profis dran, mit ihrem Können aufzutrumpfen.

Der ersehnte Pfiff ertönt und die erste Spielminute auf der hell erleuchteten Anzeige der Wahrheit erscheint. Jeder Pass, jede Flanke, jeder Ballverlust wird auf beiden Seiten ausführlich lautstark kommentiert, sodass im Grunde nur in aufgebrachtem Gespräch befindliche Fans zu beobachten sind. Wenn ein Torschuss gelingt, springt die Menge auf; geht er nur knapp am Pfosten vorbei, geht ein tiefes Raunen durch die 25.000; gelingt es einem Team (wenn auch nur im eigenen Strafraum) den Ball zu erobern, beginnen sofort die Schlachtrufe und die an der Seite sitzenden Fans trommeln mit Hilfe ihrer Fäuste mit aller Kraft gegen die Blechabsperrung. Während der heiligen 90 Minuten ist jede britische Zurückhaltung ausgeblendet: Beim Jubeln fallen sich wildfremde Menschen glücklich wie Kinder in die Arme.

Abpfiff – 0:2 für Newcastle. Nicht nur meine gefühlte Köpertemperatur hat sich heute mehrmals drastisch geändert, sondern auch meine Sicht des Fußballs: Auf der Insel geht es nicht nur um den Ball, sondern um alles, was die Menschen persönlich damit verbinden: Treue, Zusammenhalt, Wünsche.

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