Das kollektive Gedächtnis der Menschheit ist das Internet. Es ist das größte Archiv der Welt. Leider ist es wohl auch die größte Müllhalde der Welt, denn wohl nirgendwo findet sich so viel Unsinn und überflüssiger Schnickschnack wie eben im Internet.
Da ist es im Grunde schmeichelhaft, das Internet mit einem Archiv zu vergleichen, umgekehrt wäre es eher dreist. Ein Archiv kann weit mehr als das Internet. Es ist eine gut strukturierte und gepflegte Bibliothek, während das Internet eher ein großer Schrank ist, in den jeder reinstellen darf, was er mag. Ein Archiv ist ganz viel Geschichte und ganz viel Papier.
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Das Staatsarchiv München zum Beispiel ist das Archiv des Bezirks Oberbayern. Das Haus in der Schönfeldstraße unweit des Englischen Gartens archiviert die Unterlagen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Finanzämtern. Das bedeutet: sichten, beurteilen, verschlagworten, ins System einpflegen, einsortieren. »Wir bekommen eine immense Flut an Material«, berichtet Dr. Ulrike Hofmann vom Staatsarchiv. Darin eingerechnet ist nicht mal das Material, das vorab abgelehnt werden kann, weil es schlicht nicht bedeutend genug für die Archivierung ist. »Wenn die Akten erst mal bei uns im Haus sind, müssen wir sie auch in die Hand nehmen«, erläutert Hofmann.
Neben der inhaltlichen Bearbeitung wird auch der Zustand geprüft. Zu archivierende Akten werden gegebenenfalls konservatorisch aufbereitet, was praktisch immer der Fall ist, denn »das Eisen muss raus«. Also Büro- und Heftklammern. Grundsätzlich sollte eine archivierte Akte für die Ewigkeit halten.
Das ist natürlich illusorisch. Erreicht werden soll die bestmögliche Konservierung des Papiers. In der Praxis gibt es Aufbewahrungsfristen ab fünf Jahren. Manche Vorgänge bleiben sogar unbefristet. Und wozu jetzt der ganze Aufwand? »Unsere Bestände sind mit der Geschichte der Region verwoben«, erklärt Ulrike Hofmann. Nutzt aber nix, wenn keiner reinschaut. Dabei hätte jeder die Möglichkeit dazu. Zwar muss man bei einer Archivbenutzung in der Regel sein berechtigtes Interesse erklären, doch die Hürde ist schnell genommen. Ein altes Testament aus der Familie, ein nachweisbarer und plausibler Bezug zu einer Person, deren Akte archiviert ist, das reicht normalerweise für eine Recherche aus. Sowas macht man nicht aus Lust und Laune, sondern in erster Linie im Rahmen von Ahnenforschung oder heimatkundlichen Forschungen. Aber der durchschnittliche Oberbayer nutzt dieses Angebot nur selten.
Dabei kann das sehr spannend sein. So lassen sich hier die Todesanzeigen nahezu aller Personen finden, die im 20. Jahrhundert in Oberbayern gestorben sind. Genealogen bekommen bei dem Gedanken feuchte Augen. Aber ein Hindernis gibt es dennoch: »Jeder Vorgang bekommt eine Schutzfrist von 30 Jahren«, erklärt Ulrike Hofmann. Drei Jahrzehnte also darf die Akte nicht von einer Privatperson eingesehen werden. Akten mit Personendaten erhalten Sonderfristen, entsprechend dem Bayerischen Archivgesetz.
Dann gibt es wieder Akten, die sich mit bekannten Personen und Ereignissen befassen, zum Beispiel mit dem Anschlag auf die Olympischen Spiele 1972. Auch wird hier das private Testament von Adolf Hitler verwahrt im Tresor im Keller. Tatortfotos vom Fall Vera Brühne gibt es hier. Ganz viel Geschichte, nichts wird ausgeklammert.
6.000 Anfragen erreichen das Archiv pro Jahr. Im Schnitt kommen 18 Besucher pro Tag. »Wir würden hier gerne mehr begrüßen«, bedauert Archivdirektor Dr. Christoph Bachmann. Beim Tag der Archive sind es natürlich schon mehr. Der findet alle zwei Jahre statt, das nächste Mal am 5. und 6. März 2016. Mit Veranstaltungen machen die Archive auf sich und ihre Arbeit aufmerksam das Staatsarchiv arbeitet aktuell an einer Ausstellung mit Testamenten von bekannten Persönlichkeiten wie Michael Kardinal von Faulhaber, Karl Valentin oder Thomas Wimmer, besondere Einzelstücke aus 43 Aktenkilometern. Und die wachsen immer weiter. Jedes Jahr kommen etwa 800 Regalmeter dazu. Verglichen mit dem Internet ist das veschwindend wenig. Aber dafür steckt erheblich mehr Arbeit drin.
Jedes Archiv macht Geschichte lebendig. Aktenwälzen kann auch spannend sein.
Von Carsten Clever-Rott