»Ich habe mich sehr gewundert, als ich mich plötzlich im Viehwagon wiederfand.« Stephanie Gottschaller war noch das Fräulein Titze, als sie aus ihrer Heimat, den Sudetenbergen, vertrieben wurde.
»Wir lebten in Mähren und waren rein deutsch. Mein Vater besaß ein Sägewerk und eine Mahlmühle. Es war ein richtiger Märchenbetrieb auf dem Land«, schwärmt sie heute im Alter von 92 Jahren und auch wie viele andere Sudentendeutsche ist sie sich anfangs unsicher, ob sie überhaupt in der Vergangenheit wühlen möchte. Doch sie möchte ihre Geschichte weiterreichen.
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Sie fängt 1926 an, als sie in Einsiedl auf die Welt kam, eine gute halbe Stunde von der Oberpfalz auf tschechischem Gebiet gelegen. Der Bäcker, das Gemüsegeschäft, die Friseure: Alle waren deutsch.
Sie besuchte die Deutsche Ordensschule, an der sie ab 1933 Tschechisch lernen musste. »Ab da wurde alles tschechisch gemacht.« In ihrer Gemeinde wurde dann auch wieder der heutige Name Mnichov verwendet. »Unsere Eltern und Großeltern konnten nur Deutsch.« Dann wurde es genug. Sie erinnert sich, wie sie und andere deutsche Muttersprachler mit Dreck beworfen wurden.
Als 1945 russische Trupps einmarschierten, bekam sie Angst. »Von da an mussten wir das N tragen. Wir waren uns sicher, dass wenn jemand an seiner Kleidung das N nicht dran hatte, sie uns dann ins Lager in Ostrau deportiert hätten. Meinem Onkel hatten sie die Kehle herausgeschnitten. Andere Frauen wurden vergewaltigt.« Das N war ein Zeichen der immer schlimmer werdenden Diskriminierung und Rechteenteignung.
Das »N« stand für Angst und Vertreibung
Das N war das Kürzel für das tschechische Wort »Nemec« (Deutscher) und stand bei den Sudetendeutschen für Angst und später Vertreibung. Frau Gottschaller wird im Gespräch traurig.
»Ich wünschte, das Ganze wäre nie passiert. Vor dem Krieg lebten wir doch friedlich miteinander«. Sie habe bitter geweint, als sie Mähren ein Jahr nach Kriegsende verlassen musste. Sie hatte einen Tag, um ihr Hab und Gut zu packen.
Was sie zurückließ, wurde höchstwahrscheinlich geraubt. Das bedeutete für die sudetendeutschen Familien teils sehr hohe Verluste. Einen Lastenausgleich von Bayern gab es zwar, aber nur wenn man entsprechende Unterlagen vorzeigte. »Schmucksachen nähten wir in Achsenpolster ein. Meine Geige schenkte ich den Nachbarn.« Und dann kam der Viehwagon. Gottschaller verließ ihre Heimat Einsiedl für immer.
Wie einen Magnet zog es Gottschaller oft in ihre alte Heimat zurück, um zu sehen, wie es dort aussah. Ihr altes Haus und der Arbeitsbetrieb stehen noch und wurden nach dem Sturz des sozialistischen Regimes Stück für Stück renoviert. Sie lernte die heutigen Besitzer kennen. Seit 1999 ist es ein tschechisches Ehepaar, dem das Grundstück gehört. Mittlerweile befinden sich hier Büros: äußerst gut hergerichtet, wie auf den Fotografien, die sie selbst angefertigt hat, zu sehen ist.
Die Frau fragte sie, ob sie denn gerne wieder zurück nach Hause wolle. Frau Gottschaller hielt kurz inne und fing zu weinen an. Die Besitzerin weinte mit ihr mit. Die Begegnung war friedlich und freundschaftlich. Seit einigen Jahren herrscht jedoch Funkstille.
Die tschechischen Besitzer haben sich scheinbar empört, da sie die Geschichte wohl anders sehen. Frau Gottschaller wünscht sich den Dialog. Es ist ein heikles Thema, sie wünscht sich Versöhnung.
Zurück in die Heimat, aus der Stephanie Gottschaller nach dem Krieg vertrieben wurde: Das letzte Mal trat sie die knapp vier Stunden dauernde Heimatreise mit ihrer Tochter Elisabeth an. »Nach und nach interessiert sie sich mehr für meine sudetendeutsche Vergangenheit. Früher wehrte sie sie ab, weil sie sah, dass ich darunter leide.« Sie hat keine Enkel, denen sie die schönen sowie tragischen Geschichten von der Heimat weitergeben kann, deswegen eröffnet sie jetzt für die Nachfolgegenerationen ihre sudetendeutsche Lebensgeschichte.
Gibt es heute überhaupt noch richtige
Sudetendeutsche?
Heute würde sich Stephanie Gottschaller wohl eher nicht mehr als Sudetendeutsche bezeichnen. Sie heiratete einen Bayern und entschied sich, mit ihm in München wohnen zu bleiben. »Ich wollte mich anpassen und bayerisch werden. Manchmal wurde ich aber von meinem Mann ungerechterweise als Preußin bezeichnet«, schmunzelt sie. Aus der Heimat vertrieben, fühlte sie sich im neuen Wohnort anfangs schlecht integriert. »Hier habe ich mir Stück für Stück meine Heimat aufgebaut«, sagt sie und zeigt stolz, aber auch wehmütig auf ihre Küchenwand.
Zu jedem Foto, das dort hängt, erzählt sie eine Geschichte. Am Küchenregal daneben hängen mindestens zwanzig bunte Glöckchen aus unterschiedlichen Orten. »Das ist allerdings nur eine Spinnerei von mir!«, lacht sie. Das Regal brachte sie selbst an, wie fast alles andere im Haus. »Ich habe jede Männerarbeit verrichtet. Ich habe mich immer besonders für Dübel begeistert. Während mein Mann las, setzte ich im Haus insgesamt 112 Dübel.«
Sie kam in die bayerische Landeshauptstadt, als eine Sudetenfreundin ihr einen Job bei einer Münchner Baronin vermittelte. »Ich aß anfangs nur gelbe Rüben und schlief auf dem Boden.« Dies änderte sich aber mit einem Satz: »Haben Sie Lust mit mir ins Theater zu gehen?«, so lernte sie ihren Ehemann Anton in einem Adressbuchverlag kennen. Sie entschied sich gegen ihren damaligen Freund aus Ostpreußen. »Wir haben zwar gut zusammengepasst, aber ich entschied mich für Anton und München. Vor ein paar Jahren ist Rudolf allerdings wieder aufgetaucht. Er stand vor dem Schloss Nymphenburg.« Das letzte, das sie von ihm wusste, war dass Rudolf sein weiteres Leben in Kanada verbrachte. »Das Treffen war allerdings nur ein Traum.« Sie hat ihn nach der Vetreibung nicht mehr gesehen.
Mittlerweile sind beide verstorben. Am 30. Juni wäre sie mit Anton 63 Jahre verheiratet gewesen.
Bei uns war es wirklich bitter: Da darf nichts beschönigt werden!
Trotz hohen Alters, sagt sie, verbringe sie wenig Zeit zu Hause. Sie besucht Vorträge wie etwa im Sudetendeutschen Haus im Stadtteil München-Au. »Bei uns war es wirklich bitter! Da darf nichts beschönigt werden«, ist ihr Anliegen. Die Geschichte wiederholt sich, vor allem vor dem Hintergrund, dass es immer noch Geflüchtete im 21. Jahrhundert gibt. Trotzdem möchte sie das aktuelle weltpolitische Geschehen nicht mit der Vertreibung der Sudetendeutschen vergleichen.
Glücklich über Bäume vor dem Fenster statt Riesenbauten
Was ist Heimat für Stephanie Gottschaller? »Ich bin gerne in München, auf dem Dorf hätte ich mich nicht wohl gefühlt. 1955 bin ich nach Neuhausen gezogen und wohne immer noch in derselben Wohnung. Einiges hat sich zwar verändert. Damals zahlte ich 56 Mark Miete! Aber nach wie vor ist es sehr ruhig hier und ich habe glücklicherweise Bäume vor dem Fenster und keine Riesenbauten.« Wenn sie aus dem Fenster blickt, sieht sie manchmal den Blick auf ihre alte Heimat. »Wiesen und Berge, Flüsse und Pferde: Früher war alles wie ein Märchen, bis die Vertreibung kam. »Alles ist weg. Manchmal fühle ich mich, als ob ich zu den letzten Sudetendeutschen gehören würde«, fragt sich die 92-Jährige. »Ich verleugne niemals, dass ich Sudetenwurzeln habe«, sagt sie und verliert sich kurz beim Blick aus dem sonnigen Fenster in der beschaulichen kleinen Seitenstraße Neuhausens.
»Vor kurzem bekam ich übrigens einen Brief aus Übersee, in dem stand, dass meine Geige in Amerika ist. Die Nachkommen meiner Nachbarn in Einsiedl haben mir geschrieben, dass sie sehr dankbar sind, dass ich sie ihnen damals überließ.«
Stephanie ist glücklich, dass die Geige die ganzen Jahre über gut genutzt wurde und dabei auch den Weg nach Amerika gemacht hat. Vielleicht wird dies auch ihre Geschichte machen: die Geschichte der letzten Generation von Sudetendeutschen, die die Vertreibung am eigenen Leib spürten. Ein Stückchen von Sudetendeutschland wird, so hofft sie, immer überdauern.
Von Daniel Mielcarek
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