Die Rahmenbedingungen klingen, als wäre München ein Paradies für Patienten: Knapp 4.000 Arztpraxen, alle digitalisiert, weisen auf die höchste Ärztedichte in ganz Deutschland hin. Die München Klinik hat seit Jahren mit ihrem Projekt »Einweiserportal«, einer digitalen Kommunikationsplattform für einweisende Ärzte und ihre Kollegen im Krankenhaus, eine Vorreiterrolle in Bayern inne.
Doch trotzdem kommt dieser technische Fortschritt nicht bei allen an. Im Gegenteil: Es herrschen soziale und gesundheitliche Chancenungleichheiten in der Stadt und im Umland, wie Münchens Zweiter Bürgermeister Manuel Pretzl vor Kurzem auf der Transfertagung »eHealth & Society 2019« an der FOM Hochschule erklärte.
Aber was heißt das überhaupt, digitale Technologien im Gesundheitswesen? Das beginnt schon bei so unauffälligen Dingen wie der Notfallruftaste am Seniorenhandy oder dem tragbaren Notrufknopf. Im Alltag erlebt man E-Health »durch Wearables, Gesundheitsendgeräte, die man überall kaufen kann, Handys und Gesundheitsapps«, erläutert Prof. Dr. Manfred Cassens, Direktor des Instituts für Gesundheit & Soziales des FOM Hochschulzentrums München.
Digitalisierung lässt sich im Gesundheitsbereich aber auch ganz anders einsetzen, zum Beispiel in der sogenannten Telemedizin und Telepflege. »Im Ausland gibt es bereits sehr viele Arbeitsgebiete, in denen Pflegefachpersonen mit Spezialwissen online Klienten und Angehörige beraten, auf Eingriffe vorbereiten und bei der Nachsorge unterstützen«, berichtet Rainer Ammende, Geschäftsbereichsleiter München Klinik Akademie. »Absolventen von (Pflege-)Masterstudiengängen werden künftig diese Aufgaben übernehmen. Denkbar sind Pflegepraxen in Wohngebieten und Gemeinschaftspraxen, wie dies im Ausland üblich ist.«
Andere Programme wiederum sind schon in Betrieb, das telemedizinische Schlaganfallnetzwerk »TEMPiS« (Telemedizinisches Projekt zur integrierten Schlaganfallversorgung) in München schon seit 2003. Die Neurologen der München Klinik Harlaching haben das Projekt ins Leben gerufen, um Schlaganfallpatienten in Südostbayern eine einheitlich schnelle Versorgung zu ermöglichen. Die zwei großen Schlaganfallzentren in Harlaching und Regensburg unterstützen 23 angebundene Partnerkliniken im ländlichen Raum per »Video-Liveschalte« (Telekonsil) bei Diagnose und Therapieentscheidung. TEMPiS gehört mit mehr als 10.000 Patienten pro Jahr zu den größten Netzwerken seiner Art in Europa.
Seit einem Jahr wird das Netzwerk um das weltweit einzigartige Pilotprojekt »Flying Intervention Team« erweitert. Wenn sich der Schlaganfall beim Telekonsil als besonders schwer und komplex erweist, fliegt ein Schlaganfallexperte per Helikopter zum Patienten in die regionale Partnerklinik, um direkt vor Ort einen komplexen Kathetereingriff durchzuführen.
Davon bekommen die Münchner im Alltag kaum etwas mit. Spektakulär erscheinen in den Medien so genannte Pflegeroboter, die in Zukunft in der Pflege helfen sollen. Doch davon sind wir noch weit entfernt. Ammende: »Meines Wissens gibt es in München keine ›Pflegeroboter‹ im Einsatz. Ein Pflegeroboter sollte originäre pflegerische Tätigkeiten übernehmen können. Ich habe meine Zweifel, dass es das geben wird.«
Einen Roboter für pflegerische oder therapeutische Assistenzaufgaben kann sich Ammende vorstellen, zum Beispiel im Bereich Heben und Tragen. »Ein Schwerpunkt in der Entwicklung solcher Geräte sollte die körperliche Entlastung von Pflegefachpersonen sein, damit ältere Pflegefachpersonen im Berufsalltag verbleiben können.«
Die Digitalisierung sieht Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK, als große Chance. »Ich habe wenig Skrupel, mich später von einem Pflegeroboter betreuen zu lassen«, sagte sie, auch wenn es wahrscheinlich so nicht kommen wird. Aus ihrem Verband wisse sie aber, dass viele Menschen aber sehr wohl Vorbehalte vor Pflegerobotern hätten. »Digitalisierungsprozesse funktionieren nur, wenn sie transparent sind, der Mensch einbezogen und beteiligt wird und weiß, was mit seinen Daten passiert.« Nur so könne man Ängste nehmen, auf die Bedürfnisse der Betroffenen eingehen und Wissen vermitteln, meinte Verena Bentele. In ihrem Vortrag »Digital, fatal, genial – unsere Wahl«, plädierte sie dafür, Barrierefreiheit als oberstes Kriterium zu etablieren – gerade in der Telemedizin und bei digitalen Medien. »Barrierefreiheit heißt auch, eine leichte Sprache zu verfolgen, denn wer versteht schon einen Arztbrief im Fachjargon?«
Berührungsängste in punkto Digitalisierung in der Medizin haben aber nicht nur Patienten, sondern auch Ärzte. Dr. Christoph Emminger, Vorsitzender des Ärztlichen Kreis- und Bezirksverbandes, hat bei allem technischen Fortschritt eine klare Haltung: »Der Goldstandard wird immer das persönliche Gespräch und der Kontakt zwischen Patient und Arzt bleiben. Denn die Digitalisierung ersetzt den Arzt nicht.« red