Lisa Stiegler wuchs in München auf, studierte Schauspiel in Hamburg und lebt nach Stationen an Theatern in Frankfurt und Basel wieder in München. Seit fünf Jahren ist sie Ensemblemitglied am Residenztheater. Das dort laufende Stück „(Nicht)Mütter!” ist ihre erste, gemeinsam mit fünf anderen Frauen konzipierte Eigenarbeit. Gerade arbeitet sie an einem neuen Konzept.
Am 9. September 2024 warst du Initiatorin der Mahnwache am Hohenzollernplatz, die der Opfer von häuslicher, sexualisierter und partnerschaftlicher Gewalt in München gedacht hat. Wie kam es dazu und wie lief die Organisation der Veranstaltung ab?
Lisa Stiegler: Der Auslöser war ein Post der Macherinnen von #femizidestoppen, die sich zur Aufgabe machen, jeden Femizid, der in der Presse und auch polizeilich behandelt wird, zu zählen und darüber zu berichten. Als auf ihrer Seite der 60. Femizid 2024 in Schwabing auftauchte, ging mir das näher als sonst: Ich kannte die Frau nicht, die mit 52 Jahren ermordet worden ist, aber ich bin in Schwabing geboren. Wenn es eine unserer Nachbarinnen gewesen sein könnte, dann rückt das Thema näher an uns heran, dann bleibt es nicht bei einer abstrakten Zahl. Ich habe dann sofort einige Vereine angeschrieben, unter anderem One Billion Rising, die ich schon von einer Arbeit im Theater kannte. Vorstandsfrau Romy Stangl hat sofort reagiert und mich unterstützt. Das hat Mut gemacht, die Versammlung anzumelden.
Wann kamst du zum ersten Mal mit dem Themen häusliche Gewalt, Partnerschaftsgewalt und Femizide in Berührung?
Lisa Stiegler: Das Thema begegnet mir seit dem Stück „(Nicht)Mütter!”, das wir zu sechst kollektiv am Residenztheater erarbeitet haben. In den Interviews, die wir für diesen Abend zum Thema (Nicht)Mutterschaft führten, ging es nie ausdrücklich um häusliche Gewalt, wobei zwei der Interviewten zu der Zeit im Frauenhaus lebten. Über meine Mutter, die in einem Frauenhaus an der Pforte arbeitet, rückte das Thema immer näher. Ich habe das Glück, persönlich nicht betroffen zu sein, wobei ich „natürlich” als Frau ständig alltäglichem Sexismus ausgesetzt bin. Frauen herabzusetzen und ihnen gegenüber einen Besitzanspruch zu haben, ist weiterhin Bestandteil unserer Gesellschaft. Ein Femizid ist das letzte und brutalste Mittel. Gewalt beginnt schon viel früher. Das macht mich unglaublich wütend.
Welche feministischen Themen liegen dir am besonders am Herzen?
Lisa Stiegler: Am Ende geht es immer um Gleichberechtigung und ein selbstbestimmtes Leben. Um den weiblich gelesenen Körper, der in dieser Gesellschaft auf so vielen Ebenen permanenter Bewertung und Gewalt ausgesetzt ist. Die strukturelle Benachteiligung von Frauen*, die Mutter werden und dann mit viel höherer Wahrscheinlichkeit als Männer von Altersarmut betroffen sind. Die finanzielle Abhängigkeit in Beziehungen durch Gesetze wie Ehegattensplitting, der Gender Care Gap, all die Erwartungshaltungen an Frauen*, die auf der alten Erzählung fußen, dass es „in der Natur von Frauen liegt”, sich zu kümmern. Als weiße cis-Frau lerne ich immer mehr, wie viele Privilegien ich bei all dieser Ungleichheit genieße, während andere durch z.B. Rassismus, Ableismus, Homo- und Transfeindlichkeit mehrfachdiskriminiert sind.
Ist die Schauspielbranche ein guter Bereich, um über Gewalt aufzuklären?
Lisa Stiegler: Bei „(Nicht)Mütter!” konnten wir einen Raum schaffen, in dem weiblich gelesenen Stimmen zugehört wird. In dem ausgesprochen wird, was oftmals immer noch ein Tabu ist. Nach den Vorstellungen mit dem Publikum in den Austausch zu gehen und zu sehen, wie gemeinsam gesprochen und erzählt wird, das ist ein riesiges Geschenk. Was die Stücke des Kanons betrifft, ist es leider so, dass viele Figuren in Abhängigkeit zu männlichen Figuren stehen und gewaltvoll behandelt werden: jeden Abend sterben Gretchen, Desdemona, Luise, Emilia, Ophelia, Amalia u.v.m. ihre Tode aufs Neue, manchmal werden sie umgebracht, manchmal töten sie sich selbst. Was erzählen wir uns da für Geschichten? Mit welchen Geschichten wachsen wir auf? Dieser Kanon sollte dringend überdacht werden.
Bei der Mahnwache wurde bereits angekündigt, bei Femiziden weitere Wachen durchzuführen. Wie kann man deren Organisation unterstützen?
Lisa Stiegler: Das ist eine gute Frage. Wie können wir uns vernetzen und austauschen, damit wir voneinander wissen, damit wir uns nicht alleine fühlen und uns im besten Falle gegenseitig schützen können, indem wir früh Anzeichen erkennen, die auf Gewalt hinweisen. Ich weiß es also nicht, tatsächlich aber hat social media einen Vorteil: bei dieser Mahnwache ging es sehr schnell, dass der Aufruf verbreitet wurde. Das zu sehen, hat Mut gemacht, es nicht bei dieser einen Mahnwache zu belassen. Gleichzeitig gibt es so viele tolle Vereine und Organisationen, die großartige Arbeit leisten. Diese gilt es zu unterstützen.
Was wünscht du dir von der Politik bezogen auf das Thema Gewalt gegen Frauen* und Mädchen?
Lisa Stiegler: Das von der Regierung angekündigte Gewalthilfegesetz muss umgesetzt werden. Die Instanbulkonvention, die Abschaffung des §218. Und das Benennen der Gewalt als das, was sie ist: geschlechtsspezifische Gewalt. Dass wir in einem Land leben, das rechten Parteien nacheifert, indem es dauerhaft gegen Menschen als „die Anderen”, „die Bösen” hetzt, während die meisten Morde in Deutschland jene von (Ex)Partnern an Frauen sind, lenkt ab von einem Phänomen, das in der Mitte unserer Gesellschaft wohnt. Es sind nicht „die Anderen”, es sind Ärzte, Anwälte und Polizisten, die ihre (Ex)Partnerin lieber umbringen, bevor sie ihnen nicht mehr „gehört.” Der gefährlichste Ort für eine Frau* bleibt ihr Zuhause. Regierungen wie Spanien sind uns da, auch was die Täter betrifft, gesetzlich weit voraus.
Gibt es noch etwas, das dir auf dem Herzen liegt?
Lisa Stiegler: Ich bin der Überzeugung, dass wir all das nur gemeinsam schaffen. Femizide und sexualisierte Gewalt sind kein „Frauenthema”, es betrifft uns als Gesellschaft. Wo sind die Männer, die sich nicht persönlich angegriffen fühlen, sondern auch betroffen sind, wenn wieder und wieder und wieder, und zwar jeden dritten Tag eine Frau* getötet wird, weil sie eine Frau* ist. Auch trans-, nichtbinäre und intergeschlechtliche Personen sind von dieser Gewalt betroffen. Dass die Anzahl von derzeit 77 Femiziden im Jahr 2024 (Stand 13. Oktober) keinen Aufschrei auslöst, während andere Themen medial ausgeschlachtet werden, was bedeutet das für diese Gesellschaft? Wir müssen uns dieser Gewalt stellen und sie benennen. Und wir müssen füreinander sorgen. Im besten Falle alle.