Veröffentlicht am 30.03.2022 00:00

Elegie statt Poesie


Von Patrizia Steipe [pst] (patrizia.steipe@online.de, pst)
Anton G. Leitner hat die Situation seiner Frau, der Hausärztin Felizitas Leitner, in Worte gefasst.  (Foto: Volker Derlath)
Anton G. Leitner hat die Situation seiner Frau, der Hausärztin Felizitas Leitner, in Worte gefasst. (Foto: Volker Derlath)
Anton G. Leitner hat die Situation seiner Frau, der Hausärztin Felizitas Leitner, in Worte gefasst. (Foto: Volker Derlath)
Anton G. Leitner hat die Situation seiner Frau, der Hausärztin Felizitas Leitner, in Worte gefasst. (Foto: Volker Derlath)
Anton G. Leitner hat die Situation seiner Frau, der Hausärztin Felizitas Leitner, in Worte gefasst. (Foto: Volker Derlath)

„Da ist so wenig Poesie“ hat der überregional bekannte Weßlinger Literat Anton G. Leitner sein jüngstes „Gedicht“ übertitelt. Normalerweise veröffentlicht er jede Woche auf seinem Blog (www.dasgedichtblog.de) ein Gedicht. Das letzte Mal stellte er stattdessen einen – wenngleich poetisch aufgepeppten – Prosatext auf die Seite. Damit sollte seiner Frau, der Weßlinger Hausärztin Felizitas Leitner, eine Stimme gegeben werden. Diese kämpft derzeit mit den Überforderungen des Gesundheitssystems angesichts der hohen Coronazahlen. Dem Inhalt habe auch Thomas Weiler, der für vier Landkreise zuständige Ärztliche Leiter Krankenhauskoordinierung, zugestimmt. Leitner habe treffend den seit vielen Monaten gelebten Alltag in den Krankenhäusern geschildert. Die aktuellen politischen Entscheidungen über die Corona-Lockerungen wirkten wie Hohn über die Leistungen und Entbehrungen aller am Kampf gegen die Pandemie Beteiligten. Anton G. Leitner schreibt:

„Da ist so wenig Poesie”

Zum Beispiel im Vorgestern meiner Frau, als Allgemeinärztin nach 20 Uhr auf Hausbesuch im Nachbarort bei einem alten Mann. So hilflos liegt er da vor ihr mit über 90 Jahren auf dem Buckel, sein Kopf hochrot vom hohen Fieber, kaltschweißig, er zittert, ist schon ganz verwirrt, kaum ansprechbar. Da ist so wenig Poesie um diese Zeit nach einem Zwölfstunden-Arbeitstag hinter der Maske, beim Führen von einem Telefonat nach dem anderen, mit einer Klinik nach der anderen, geschlagene zwei Stunden lang ein „Nein” nach dem anderen: „Nein, wir haben kein Bett mehr frei, tut uns leid!” Die Sanitäter werden immer unruhiger, weil ihre Schicht bald enden wird und sie den ganzen Tag lang nichts als „Nein” gehört haben, und auch heute schon von München aus ein Klinikum in Erlangen anfahren mussten, nach jedem Einsatz ihr Fahrzeug komplett desinfizieren. Und kurz nach 22 Uhr werden sie endlich abgelöst, erlöst und meine Frau telefoniert noch immer, mit Maske, Schutzanzug und Kreislaufproblemen, bis den Sanitätern der zweiten Schicht ihr Geduldsfaden reißt: „Wir bringen ihn jetzt in die nächste Notaufnahme, wenn wir ihn dort absetzen, müssen sie ihn erst einmal nehmen!”
Da ist so wenig Poesie in der Verzweiflung der Angehörigen, bei ihrem alten, kranken Vater, Schwiegervater, soweit er etwas mitbekommt in seiner Erschöpfung, da ist Verzweiflung auch bei meiner Frau, sie sagt: „Die machen einfach dicht, sobald sie das Alter hören”. Und sie sagt auch: „Das ist nichts anderes als eine Triagierung”. Und ein Sanitäter sagt: „Wir haben die höchsten Corona-Zahlen seit je und die Politik behauptet, wir hätten keine Überlastung, es gäbe genügend Betten, und sie rufen nur noch nach Lockerung, Öffnung, nach einem Freedom Day, was für ein idiotisches Wort!”
Und alle hier schauen sich nur noch an und fühlen sich so im Stich gelassen von allen. Da ist so wenig Empathie im dritten
Jahr der Pandemie, da ist so wenig Platz für Poesie in diesem Text, der eigentlich ein Gedicht hätte werden sollen.

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