Philipp ist zwei Jahre alt und lebt mit seiner Familie in Unterföhring. Er lacht und weint wie jedes andere Kind. Was Philipp nicht kann – und auch nie können wird: sitzen, laufen, greifen, sprechen, alleine essen. Denn Philipp leidet an der Pontozerebellären Hypoplasie Typ 2 (PCH 2), einer schweren und sehr seltenen Erbkrankheit.
Die Wahrscheinlichkeit, an PCH 2 zu erkranken, liegt bei eins zu einer Million, erläutert Philipps Vater Markus Ott. In Bayern seien ihm keine zehn Patienten bekannt, in Deutschland etwa 80. Durch den erst seit etwa zehn Jahren richtig diagnostizierten Gendefekt sind Kleinhirn und Stammhirn geschädigt, die Entwicklung der Kinder dadurch massiv beeinträchtigt. So ist zum Beispiel Sprechen lernen unmöglich, die Kommunikation zwischen Eltern und Kind äußerst mühsam. „Es ist sehr schwierig, die Kinder lesen zu lernen”, meint Ott. So fuchtelt der zweijährige Philipp oft unkontrolliert umher, kann aber nicht gezielt greifen oder sich zum Beispiel selbst kratzen. „Im Sommer hat ihn ein Mückenstich gejuckt”, berichtet Ott. „Wir sind lange nicht darauf gekommen, was er hat und konnten ihm nicht helfen.”
Bedingt durch seine schwere Behinderung wird Philipp niemals laufen können. Selbst aufrecht sitzen ist ohne Hilfsmittel nicht möglich. „Wir müssen ihn ständig umhertragen, weil er nicht immer im Therapiestuhl sitzen will”, sagt Markus Ott. Dabei sei es unerlässlich, dass Philipp nicht immer nur liegt, sondern einen anderen Blickwinkel auf die Welt bekommt, die Muskeln sich bewegen, das Herz zum Pumpen angeregt wird. Die Wohnung der Otts in Unterföhring ist voller medizinischer Geräte, die Philipp das Leben erleichtern. Zum Alltag gehören zudem sehr viele Therapien. „Es ist alles wahnsinnig zeitraubend”, meint Markus Ott, der trotz aller Widrigkeiten die Zeit mit seinem Sohn genießt: „Philipp kann sehr lieb sein und sich auch wegschmeißen vor Lachen.”
Dürfte das bisher Beschriebene schon jenseits der Vorstellungskraft der meisten liegen, wird alles zusätzlich erschwert dadurch, dass es ständig zu einer lebensbedrohlichen Situation kommen kann. Weil Philipp nicht kontrolliert beißen kann, isst er nur Brei, woran er sich oft verschluckt – und im schlimmsten Fall ersticken kann. Auch könne es zum Beispiel passieren, dass sich der Zweijährige unter ein Kissen rollt und dann keine Luft mehr bekommt, erklärt Markus Ott. Da Philipp nicht um Hilfe rufen kann, muss er rund um die Uhr beaufsichtigt werden. Ein Budget der Krankenkasse zur sogenannten Außerklinischen Intensivpflege ermöglicht es den Otts, selbst eine Pflegekraft für daheim anzustellen. Es wäre noch mehr Personal möglich, etwa als Urlaubsvertretung, meint Markus Ott, aber das muss erst gefunden werden. Ein wenig entlastet werden die Eltern, weil Philipp eine Kita der Pfennigparade besucht. Hier steht ihm eine eigene Betreuerin zur Seite, die die Otts mit Hilfe des Budgets beschäftigen können.
Mit der raren Diagnose PCH 2 standen die Eltern erst einmal allein da. Viele Kinderärzte haben davon noch nie gehört. Aufgefallen waren die schweren Entwicklungsstörungen schon kurz nach der Geburt in der Klinik, weil Philipps Atmung und die Motorik nicht wie gewöhnlich einsetzten. Da die Krankheit so selten und noch weitgehend unbekannt ist, ist es für Eltern schwierig, sich über PCH 2 zu informieren und mit anderen Betroffenen auszutauschen. Seit einigen Jahren existiert der Verein „PCH-Familie”, der eine Homepage mit Forum betreibt – laut Markus Ott die weltweit größte kostenlose Datenbank mit praxis- und lebensnahen Informationen rund um die Krankheit. „Das ist unersetzbar für frisch Diagnostizierte”, meint der Unterföhringer.
Die Mitglieder des Vereins treffen sich alle zwei Jahre auf dem Irmengardhof in Gstadt am Chiemsee, einem Begegnungsort für Familien mit chronisch kranken und behinderten Kindern. Für den nächsten Sommer plant PCH-Familie eine weitere Zusammenkunft, allerdings nicht an Land, wo es kaum geeignete Orte mit genügend Platz für alle notwendigen Gerätschaften gibt, sondern mitten auf der Ostsee – auf einem Kreuzfahrtschiff. „Die Idee ist eigentlich völlig verrückt”, meint Ott: „Aber wir wollen zeigen, dass es geht!”
Die Verantwortlichen bei AIDA Cruises, die zuerst „ganz schön geschluckt” hätten, seien mittlerweile „Feuer und Flamme” für die weltweit einmalige Aktion. Geplant war die unkonventionelle Kreuzfahrt schon vor der Corona-Pandemie. Inzwischen sind weitere interessierte Familien dazu gekommen, darunter auch die Otts aus Unterföhring. So wollen sich Ende Juli 2024 über 30 Familien mit PCH2-Patienten auf den Weg an die Ostsee machen. Mit dabei sein auf dem Schiff werden Pflegekräfte in drei Schichten sowie Ärzte und Therapeuten. Insgesamt wird der Tross um die 200 Personen umfassen, dazu kommen die zahlreichen medizinischen Geräte. Rund 300.000 Euro kostet die Kreuzfahrt. Der Verein hat hierfür ein Spendenkonto eingerichtet (siehe Infobox). Das Ziel ist klar: Den Kindern und ihren Eltern ein Stück Lebensqualität schenken. „Die Kinder lieben den Seewind”, meint Markus Ott, „und alleine würden wir uns eine solche Reise nicht zutrauen”. Eltern, Ärzte und Pflegekräfte bekommen derweil an Bord die Möglichkeit, sich auszutauschen.
Ein weiteres Anliegen von PCH-Familie ist es, die Krankheit zu erforschen. Dazu hat der Verein 2018 gemeinsam mit den Universitäten Tübingen und Freiburg die Initiative „PCH2cure“ gegründet. Ziel ist es, das Leben der Betroffenen, von denen nur etwa zwei Drittel das Pubertätsalter erreichen, durch Therapien zu verbessern. Langfristig hoffen die Initiatoren auf Heilbarkeit.
Als einzige Initiative, die nicht aus den USA stammt, ist „PCH2cure“ im Dezember 2022 in ein Forschungsprogramm der Chan Zuckerberg Initiative (CZI) aufgenommen worden, hinter der der Milliardär Mark Zuckerberg und seine Ehefrau, die Kinderärztin Priscilla Chan, stehen. Auf diesem Weg fließen zwei Millionen US-Dollar an die Forschungsinitiative. Der Verein erhält daraus 400.000 US-Dollar, verbunden mit dem Auftrag, sich zu professionalisieren und seine Erfahrungen international zu teilen.
Aufgrund der geringen Zahl der Betroffenen kommt nur durch Eigeninitiative Forschung zu PCH zustande. Deshalb wollen die Eltern unabhängig vom Programm der CZI zusätzlich eigenständig Doktorarbeiten ausloben. Auf diese Weise können sie auch patientennahe Themen anregen. Ein besonderes Augenmerk liegt darauf, einen Kommunikationsweg zu finden, sodass die betroffenen Kinder und Jugendlichen zumindest „Ja” und „Nein” ausdrücken könnten.
PCH-Familie e.V.
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