Veröffentlicht am 27.07.2020 16:18

„Auch das Unvorstellbarste kann einem widerfahren”

Das SARS-Coronavirus-2 (SARS-CoV-2) unter dem Elektronenmikroskop. (Foto: Robert Koch-Institut)
Das SARS-Coronavirus-2 (SARS-CoV-2) unter dem Elektronenmikroskop. (Foto: Robert Koch-Institut)
Das SARS-Coronavirus-2 (SARS-CoV-2) unter dem Elektronenmikroskop. (Foto: Robert Koch-Institut)
Das SARS-Coronavirus-2 (SARS-CoV-2) unter dem Elektronenmikroskop. (Foto: Robert Koch-Institut)
Das SARS-Coronavirus-2 (SARS-CoV-2) unter dem Elektronenmikroskop. (Foto: Robert Koch-Institut)

Am 27. Januar wurde der erste Mitarbeiter von Webasto in Deutschland positiv auf das neuartige Coronavirus getestet. Zwei Wochen später gab die Weltgesundheitsorganisation dem Virus und dem von ihm ausgelösten Lungenleiden offizielle Namen: „Sars CoV-2“ und „Covid-19“. Wie „Patient 1“ seine Infektion erlebt hat und wie es ihm heute geht, berichtete er in einem Interview. Zum Schutz seiner Privatsphäre sind seine Antworten anonymisiert.

„Ich hatte Fieber und Schüttelfrost”

Hatten Sie sich mit dem neuartigen Virus beschäftigt, bevor Sie selbst betroffen waren?

Ich hatte nur die Nachrichten aus Wuhan (China) verfolgt. Damals erschien das Virus noch sehr weit entfernt. Ich hatte tatsächlich am Mittwoch, den 22. Januar, einen Termin bei unserem Betriebsarzt und dort nebenbei gefragt, wie er dieses Virus einschätzt, da ich für 2020 Dienstreisen nach Asien geplant hatte. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich gar nicht, dass ich das Virus schon in mir trage.

Wann und wie haben Sie erfahren, dass Ihre chinesische Kollegin positiv auf das neuartige Virus getestet wurde?

Dies geschah direkt am Morgen des 27. Januar. Ich habe es durch meinen Vorgesetzten erfahren.

Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie von der Infektion der Kollegin gehört haben?

Ich habe sofort an meine Familie gedacht. Am Wochenende hatte ich Fieber und Schüttelfrost, jedoch keine Atembeschwerden. Trotzdem war ich sofort um meine schwangere Frau und um meine kleine Tochter besorgt. Ich wusste, dass ich mich sofort auf das Virus testen lassen muss. Zu dem Zeitpunkt gab es leider noch keine offiziellen Hinweise dazu, wo man hingehen muss, um sich testen zu lassen.

„Die ganze Zeit bei der Familie”

War Ihnen sofort klar, was das für Sie und Ihre Familie bedeuten könnte?

Ja. Wobei meine Gedanken die ganze Zeit bei meiner Familie waren.

Bei welcher Gelegenheit hatten Sie die Kollegin getroffen?

Die chinesische Kollegin hatte ich bei einer einstündigen Besprechung am Montag, den 20. Januar, getroffen.

Gab es mehrfach Kontakt und wie sah der aus?

Es gab nur ein Meeting am Montagmorgen. Dort haben wir uns noch alle die Hand gegeben. Ich saß dann auch direkt neben ihr und habe nebenbei Kaffee getrunken.

„Unverzüglich zum Hausarzt”

Was haben Sie gemacht, als Sie am Montag von der infizierten Kollegin erfahren haben?

Auch wenn ich zu dem Zeitpunkt keine Krankheitssymptome mehr hatte, bin ich unverzüglich zu meinem Hausarzt gefahren und habe ihm meine Situation geschildert. Der hat mich – richtigerweise – direkt zum Tropeninstitut nach München geschickt.

Wann und wo sind Sie getestet worden?

Ich wurde am Montagmittag, 27. Januar 2020, im Tropeninstitut getestet.

Mussten Sie dann gleich im Krankenhaus bleiben oder bekamen Sie bis zum Testergebnis häusliche Quarantäne auferlegt?

Nein, ich bin danach wieder nach Hause gefahren und habe dort auf den Anruf gewartet.

„Ich fühlte mich wie ferngesteuert”

Können Sie sich an die Situation erinnern, in der Sie Ihr Testergebnis bekommen haben?

Ja, daran kann ich mich sehr gut erinnern: An diesem Montagabend habe ich zum ersten Mal meiner Tochter keinen Gute-Nacht-Kuss gegeben und war auch auf Distanz zu meiner Frau. Kurz nach 20 Uhr kam dann der Anruf, bei dem mir das Ergebnis mitgeteilt wurde. Mir wurde gesagt, dass ich mich sofort ins Schwabinger Krankenhaus begeben soll, zu einem bestimmten Gebäude und dort zu einer bestimmten Station. Ich sollte mich nicht an der Rezeption melden, sondern direkt auf das Gelände fahren, und man würde auf mich warten.

Über die Krankheit war zu dieser Zeit nicht viel bekannt. Hatten Sie Angst, richtig schwer zu erkranken?

Es war eine sehr surreale Situation. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Viele Gedanken schwirrten durch meinen Kopf, aber erst einmal habe ich nur noch reagiert und fühlte mich fremdgesteuert.

„Das ist für mich bis heute nicht nachvollziehbar”

Was war das für ein Gefühl, als Sie erfahren haben, dass der Erreger von Ihnen auf andere Kollegen übertragen worden war?

Zum Glück hat sich bestätigt, dass ich selbst das Virus nicht weiterverbreitet habe. In den Medien war inzwischen von „Superspreadern“ zu lesen, dazu gehörte ich nicht. Ich habe, soweit die Untersuchungen ergeben haben, nur einen Kollegen angesteckt, als dieser meinen Laptop bedient hat. Das tat mir natürlich sehr leid, dass dieser jetzt wegen mir ebenfalls ins Schwabinger Krankenhaus eingewiesen wurde. Die Krankheit ist bei ihm Gott sei Dank aber auch nicht stark ausgebrochen.

Haben sich auch Familienmitglieder oder Freunde bei Ihnen angesteckt?

Nein, und das ist für mich bis heute nicht nachvollziehbar, da ich eine volle Woche unbewusst dieses Virus in mir hatte und ich normal mit meiner Familie und Freunden zusammen war. Es wurden aber alle zwei Mal getestet, und alle sind negativ gewesen.

„Große Sorgen gemacht”

Gab es Reaktionen auf Ihr Testergebnis, die Sie positiv oder negativ überrascht haben?

Freunde und Familie waren natürlich erst einmal geschockt und besorgt. Ich habe täglich von allen Anrufe bekommen, da sie sich große Sorgen um mich gemacht haben. Ich habe sie stets beruhigt und gesagt, dass es mir gut gehe. Aber ich haben natürlich auch die Nachrichten verfolgt und war zum Teil erschrocken, welche Erkenntnisse man angeblich über mich und mein Privatleben „rausgefunden“ hatte. Das habe ich jedoch nicht an mich rankommen lassen.

Was mich wirklich aufgeregt hat, waren Medien, die über frei erfundene Gespräche zwischen mir und meiner Frau berichteten oder solche, die meinten, sie müssten Reporter zu der Kindertagesstätte meiner Tochter schicken.

Wie lange waren Sie im Krankenhaus?

Ich war 19 Tage im Krankenhaus.

Wie ging es Ihnen in der Zeit im Krankenhaus gesundheitlich? Welche Beschwerden hatten Sie?

Ich hatte zum Zeitpunkt meiner Aufnahme, außer leichtem Durchfall, keine Beschwerden mehr. Dieser war nach wenigen Tagen weg. In der dritten Woche hatte ich an einem Tag eine leichte Panikattacke, da ich keine Perspektive auf eine Entlassung sah und mir eingebildet habe, ich würde auf ungewisse Zeit festsitzen.

„Eine sehr rührende Geste”

Wie haben Sie die Zeit im Krankenhaus sonst empfunden?

Das Krankenhauspersonal war stets freundlich, und ich habe mich dort gut aufgehoben gefühlt. Ich habe mich täglich auf die Anrufe von Freunden und Familie gefreut. Zudem habe ich auch Pakete erhalten. Nicht nur von meiner Familie, sondern auch eins von dem Task-Force- und Management Team von Webasto. Inhalt waren ein Brief, Süßigkeiten, ein Puzzle, Gutscheinkarten, mit denen ich mir Filme anschauen konnte, und zudem weitere kleine Sachen zur Aufmunterung. Das fand ich eine sehr rührende Geste.

Ende Februar sind Sie aus dem Krankenhaus als geheilt entlassen worden. Konnten bzw. mussten Sie dann gleich wieder arbeiten?

Ich habe die ganze Zeit über gearbeitet, da ich meinen Laptop im Krankenhaus dabei hatte. Mir macht meine Arbeit sehr viel Spaß, und es war eine willkommene Abwechslung und auch Ablenkung zum recht eintönigen Alltag im Krankenhaus. Nach der Entlassung hatte ich weitere Auflagen vom zuständigen Gesundheitsamt. Erst nachdem auch die letzte tote Virus-DNA aus meinem Körper ausgeschieden war, durfte ich wieder zurück an meine Arbeitsstätte.

„Ich rate es jedem eindringlich”

Wie geht es Ihnen heute gesundheitlich?

Mir geht es bestens. Ich wurde öfter von Kopf bis Fuß untersucht, und es wurden keine Spätfolgen festgestellt.

Schützen Antikörper Sie vor einer neuerlichen Infektion mit dem Virus?

Leider nicht mehr. Seit April habe ich keine neutralisierenden Anti-Körper mehr.

Als Sie die Anti-Körper noch hatten, haben Sie da trotzdem die hygienischen Schutzmaßnahmen eingehalten?

Ja, in vollem Umfang. Mir war klar, dass mein Körper zu dem Zeitpunkt immun gegen das Virus war, jedoch war mir auch bewusst, dass ich trotz Immunität ein Überträger auf andere hätte sein können. Ich habe stets Abstand gehalten, habe eine Maske getragen und Händehygiene beachtet, und dies tue ich bis heute noch genauso und rate es jedem eindringlich.

„Alles kann sich verändern”

Hätten Sie gedacht, dass das Virus so gefährlich ist und es zu einer Pandemie kommt?

Nein, das habe ich nicht ahnen können. Im Nachhinein ist mir klargeworden, dass ich ein Riesenglück hatte, dass das Virus meinen Körper nicht so stark angegriffen hat und ich das Ganze glimpflich überstanden habe.

Haben Sie die Erkrankung und die Erfahrungen, die Sie gemacht haben, verändert?

Es hat mich gelehrt, dass einem auch das Unvorstellbarste widerfahren kann und dass man das Leben nicht als selbstverständlich hinnehmen darf. Von heute auf morgen kann sich alles verändern.

north