Stadtteilinspektor und der jeweilige Vorname stand auf den Schildern, die Nicole Endrich und Marie-Luise Hess vom Kreisjugendring München-Stadt (KJR) an die 24 Mädchen und Jungen der Klasse 3a der Dom-Pedro-Schule austeilten. Die Schülerinnen und Schüler nahmen in der vergangenen Woche an einem sogenannten Stadtteilcheck teil, den die Fachstelle „Erleben - Begegnen - Solidarisieren” (ebs) des KJR anbietet. In Begleitung von Mitgliedern des Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbundes (BBSB), einigen Rollstuhlfahrern sowie Vertretern des Bezirksausschusses Neuhausen-Nymphenburg erlebten sie hautnah, was eingeschränkte Mobilität bedeutet beziehungsweise wie man sich ohne Augenlicht zurechtfinden kann.
Aufgeteilt auf drei Gruppen untersuchte die Klasse verschiedene neuralgische Punkte wie die U-Bahn-Station an der Waisenhausstraße, eine Unterführung und eine Brücke an der Landshuter Allee, Supermärkte und andere Geschäfte, den Platz der Freiheit und die Baustelle rund um das Heilig-Geist-Areal. Damit die Kinder nachempfinden konnten, welche unerwarteten Schwierigkeiten für Menschen mit Handicap auftauchen können, hatten die Mitarbeiterinnen von ebs Rollstühle, Blindenstöcke und spezielle Brillen mitgebracht, durch die nichts oder nur Umrisse zu sehen waren. Helmut Längl, der vor neun Jahren aufgrund einer Augenerkrankung erblindet ist, erklärte den Schülern den Gebrauch der Stöcke, und die Studentin Senet Ibrahim, die seit mehr als 20 Jahren auf den Rollstuhl angewiesen ist, gab Tipps, wie man sich damit am besten fortbewegt. Abwechslungsweise schlüpften die Kinder dann in die für sie ungewohnten Rollen und mussten feststellen, dass auf dem Bürgersteig schon Sperrmüll oder ein abgestelltes Motorrad, an denen man sonst achtlos vorbeigeht, zu großen Hindernissen werden können.
„Jetzt erlebt Ihr eine andere Welt”, meinte Helmut Längl. Er zeigte den Schülern, wie man den Randstein des Gehwegs ertastet, um nicht unversehens auf der Straße zu stehen und vielleicht von einem Auto überrollt zu werden. Gleichzeitig wies er die Kinder auf herannahende Motorgeräusche hin, durch die man feststellen kann, aus welcher Richtung sich ein Fahrzeug nähert. Klar wurde auch, dass ein vollkommen abgesenkter Randstein für einen Blinden schwer zu ertasten ist, während die Absenkung andererseits Rollstuhlfahrern das Leben erleichtert. Dem 9-jährigen Valentin machte das Kopfsteinpflaster zu schaffen, während sein Klassenkamerad Cesare, nachdem er die Brille abgelegt hatte, feststellte: „Man denkt, man ist irgendwo ganz anders. Komisch. Man weiß gar nicht, wo man ist!”
Bereits seit über zehn Jahren gibt es die Fachstelle „Erleben - Begegnen - Solidarisieren” des Kreisjugendrings. Man habe bereits Flughafenchecks und Bahnhofchecks durchgeführt, mache Dunkel-Essen und einen Integrationszirkus, sei bei Mini-München dabei und probiere immer wieder Neues aus, berichtete ebs-Leiterin Nicole Endrich. Ziel sei es, Kinder mit Behinderten zusammenzubringen und sie für deren Bedürfnisse zu sensibilisieren. Für die Stadtteilchecks gebe es einen so großen Andrang, dass daraus nun ein eigenes Projekt entstanden ist, das regelmäßig mit Schülern im Alter zwischen sechs und 13 Jahren veranstaltet wird.
Für die Stadtteilchecks, die das Motto „Auf Herz und Rampen prüfen”, erhalten haben, ist seit Februar die Sozialpädagogin Marie-Luise Hess zuständig. An der Dom-Pedro-Schule war es bereits der vierte Termin, den sie anbieten konnte. Am Tag vor dem Check bekamen die Klassen eine zweistündige Einführung.
Hess sammelt per Diktiergerät auch die Informationen, die bei den Rundgängen zusammenkommen. Immer wenn den Schülern etwas auffiel, zum Beispiel dass es an etlichen Ampeln noch keinen Vibrationsalarm für Blinde gibt, sprachen sie ihre Anmerkungen auf Band. Diese werden dann zusammengefasst und abschließend dem Bezirksausschuss als Dokumentation übergeben. Nicht behindertengerechte Zu- oder Übergänge könnten so vielleicht verändert werden, hofft die Sozialpädagogin.
Hilfreich ist natürlich, wenn Mitglieder des jeweiligen Bezirksausschusses die Klassen auf ihrem Stadtteilcheck begleiten und sie – genau wie die Schüler – die Schwachstellen aus der Perspektive der Behinderten erleben. Als ein für Rollstuhlfahrer kaum überwindbares Hindernis entpuppte sich zum Beispiel die Unterführung an der Landshuter Allee in Höhe Volkartstraße, deren Rampe so steil ist, dass ein Befahren ohne Hilfe eines schiebenden bzw. bremsenden Begleiters nicht möglich ist. „Wenn ich alleine bin, kann ich das nicht schaffen”, äußerte Senet Ibrahim. „Ich würde auch keinen Fremden fragen. Zu demjenigen, der mich da hinunterbringt, muss ich Vertrauen haben.” Marie-Luise Hess bezeichnete die Rampe als „kriminell” und Thomas Neuberger vom Bezirksausschuss erklärte nach einem schweißtreibenden Selbstversuch: „Das kann unmöglich so bleiben. Die Rampe muss abgeflacht werden oder es muss ein Aufzug her.”